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«Die Frage ist nur, wann»: Ein ETH-Experte über die Gefahr eines Mega-Blackouts in der Schweiz

Erst im Dezember veröffentlichte ETH-Forscher Leonard Schliesser eine Analyse über die Risiken der europäischen Stromversorgung. Er sagt: Die Anarchie sei nur 72 Stunden entfernt.

Leonard Schliesser ist Senior Researcher im Team Risiko und Resilienz am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. In seinen Studien befasst er sich mit dem «Schutz kritischer Infrastrukturen, ziviler Verteidigung und unwahrscheinlichen Ereignissen, etwa Blackouts, die ein katastrophisches Potenzial mit sich führen», heisst es auf der Website der Universität.

Leonard Schliesser.
Bild: zvg

Vergangenen Dezember veröffentlichte er eine Analyse zur Gefahr eines europäischen Stromausfalls. «Als grossflächige und lang anhaltende Stromausfälle können Blackouts erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft haben», heisst es darin. «Unvorbereitet zu sein, ist fahrlässig, da der Blackout ein katastrophisches Potenzial mit sich bringt.»

Mit demStromausfall in Teilen Spaniens, Portugals und Frankreichserlangen Schliessers Schlussfolgerungen neue Aktualität. Im Interview erläutert er die Hintergründe des Blackouts und nimmt Stellung zum Risiko der Schweiz.

Plötzlich standen Spanien und Portugal fast still. Ein Blackout dieses Ausmasses in Europa: Hat Sie der Stromausfall auf der Iberischen Halbinsel überrascht?

Leonard Schliesser:So ein Ereignis tritt ja immer unvorhergesehen ein, insofern war ich schon überrascht. Dass es aber passieren kann, war mir sehr bewusst.

Werden solche Ereignisse denn häufiger?

Wir sprechen hier von Ereignissen von grosser Seltenheit mit grossem Effekt. Diesen kann man im Unterschied etwa zu einem Hochwasser eigentlich keine Wahrscheinlichkeit zuweisen, weil die statistische Grundlage fehlt. Risikoanalysen drehen sich daher mehr um Szenarien als um Eintretensintervalle.

2024 schrieben Sie, Stromausfälle könnten im heutigen Stromwesen schnell eine Kaskade «kontinentalen Ausmasses» annehmen.

Das ist zum Glück nicht eingetroffen, weil die Verteidigungsmechanismen des Netzwerks vor allem in Frankreich rechtzeitig funktioniert und den Blackout auf der Iberischen Halbinsel isoliert haben.

Was muss man sich unter solchen Mechanismen vorstellen?

Verteidigung klingt natürlich etwas militaristisch. Aber letztlich kann man sich das vorstellen wie den Sicherungskasten zu Hause. Bei einer Überlast trennen sich die Komponenten des Stromnetzes – also Transformatoren, Generatoren oder Verbraucher – vom Netz.

Konnte man die Auswirkungen auch in der Schweiz spüren?

Ein Blackout dieser Grössenordnung hat einen Frequenzabfall auch im Rest Europas zur Folge. Dieser bewegte sich aber in einem Bereich, in welchem man mit regulären Massnahmen gegensteuern konnte.

Konkret bedeutet dies: Ein paar Pumpspeicherkraftwerke oder andere Reservekraftwerke haben kurzfristig Wasser abgelassen und Strom ins Netz eingespeist.

Genau. Es geht hier um die kurzfristige Bereitstellung von Regelenergie. Pumpspeicher sind klassische Lieferanten, die innert Sekunden Energie liefern können.

Ist ein Szenario wie in Spanien denn auch in der Schweiz denkbar?

Die Frage ist gar nicht, ob, sondern wann. 2003 gab es bereits einen grossen Stromausfall in Italien, von dem auch die Schweiz betroffen war. Die meisten Leute sind sich dessen aber gar nicht bewusst, weil es sich bei Strom um eine so wenig sichtbare Infrastruktur handelt. Lichtschalter, Kaffeemaschine, Handy – die meisten dieser Prozesse laufen in unserer Gesellschaft so automatisiert ab, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Aus der Verhaltenspsychologie ist bekannt, dass dies zu einer verzerrten Wahrnehmung führt: Wir rechnen kaum damit, dass so etwas Alltägliches plötzlich wegfallen kann.

Welche Rolle spielt dabei die Transformation zu den Erneuerbaren?

Das ist aus wissenschaftlicher Sicht schwierig zu beurteilen, weil, wie gesagt, die statistische Grundlage fehlt. Generell lässt sich aber sagen, dass viele europäische Länder ihre konventionellen Kraftwerke abbauen. Diese hatten durch ihre Grossgeneratoren als Schwankungsdämpfer gewirkt. Latent ist die Gefahr eines Blackouts also etwas grösser. In der Zukunft, wenn man lernt, damit umzugehen, wird diese Wahrscheinlichkeit wieder abnehmen.

In der Schweiz war in den vergangenen Jahren vor allem von einer Strommangellage die Rede. Damit hat dieses Ereignis in Spanien aber nichts zu tun.

Nein. Eine Strommangellage erstreckt sich über einen längeren Zeitraum und bedeutet, nur einen Teil des Bedarfs an Energie decken zu können. Das Phänomen ist vor allem in Südafrika sehr bekannt. Bei einem Blackout ist ein ganzes Netzwerk stromlos.

Wie beurteilen Sie die Widerstandsfähigkeit der Schweiz, sollte es auch hier mal zu einem so grossflächigen Stromausfall kommen?

Ich glaube, da hat sich gerade wegen der Bedrohungslage einer Strommangellage viel getan. Vor allem kritische Infrastrukturen wie Chemieparks, Wasserwerke oder auch Krankenversorger haben ihre Konzepte überdacht und wo nötig investiert. Die Schweiz ist sensibilisiert. Und gut aufgestellt ist das Land auch: Swissgrid ist einer der besten Verteilnetzbetreiber Europas.

In Spanien soll ein berühmtes Kaufhaus den Stromausfall mit Generatoren auf dem Dach überbrückt haben: Kunden, wird berichtet, konnten unbekümmert weitershoppen. Ist das die Zukunft: Für sich selbst vorsorgen?

Diese Frage möchte ich eigentlich gar nicht beantworten, weil sie politisch ist. Klar ergibt es Sinn, dass man über eine Notstromversorgung verfügt. Gerade bei Grosstiefkühllagern ist dies inzwischen fast Standard, weil bei einem Unterbruch der Kühlkette alles weggeschmissen werden müsste. Es wird aber wohl ein unternehmerischer Entscheid bleiben, weil eine solche Absicherung sehr teuer ist. Wichtig ist, dass zentrale Pfeiler der Gesellschaft auch in einem solchen Fall funktionieren.

Sie schreiben, eine Gesellschaft sei nur neun Mahlzeiten von der Anarchie entfernt. Das klingt erst mal dramatisch.

Empirische Studien zeigen, dass ein normaler Haushalt für ungefähr 72 Stunden vorsorgt. Danach wird es eng. Dazu, und das hat man bereits nach wenigen Stunden in Spanien beobachten können, löst der Verlust der Telekommunikation Ängste aus. Wenn man nicht weiss, was passieren wird, kann die Situation schnell dramatisch werden.

Was würden Sie denn raten?

Vorzusorgen! Eine individuelle Notfallvorsorge ist eigentlich eine Bürgerpflicht, oder sollte es zumindest sein. Man kann sich dann darüber streiten, ob es 72 Stunden oder zwei Wochen sein müssen. Ich würde das von der persönlichen Leidensfähigkeit abhängig machen.