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Jetzt kommt der Gegenvorschlag: Wer hat Angst vor der Neutralitätsinitiative?

Eigentlich will eine Mehrheit des Ständerats keine Verfassungsänderung, um die Neutralität festzuschreiben. An einem Gegenvorschlag hält die kleine Kammer trotzdem fest.

Wie neutral kann die Schweiz sein in einer Zeit der Kriege und Krisen? Darüber stritt am Donnerstag der Ständerat – und über die Frage, wie das Volk dabei mitreden soll. Der Elefant im Raum: die Angst vor der SVP.

Bisher ist die Neutralität der Schweiz in den Kompetenzen des Parlaments und des Bundesrats vermerkt. Dort heisst es, Parlament und Regierung haben Massnahmen zur Bewahrung der Neutralität zu ergreifen. Dieser Auftrag wurde in den letzten 175 Jahren unterschiedlich ausgelegt.

Die Befürworter der Neutralitätsinitiative, sie wurde eingereicht von der SVP und Pro Schweiz, wollen dieser Flexibilität nun ein Ende setzen. Sie wollen die Neutralität in der Verfassung festschreiben; sie soll «immerwährend» und «bewaffnet» gelten.

Umstritten ist, dass die Initiative sowohl den Beitritt zu militärischen Bündnissen als auch das Ergreifen von Sanktionen im Falle eines internationalen Konflikts fast vollständig verbieten will. Es wäre nur noch die Übernahme von Sanktionen erlaubt, die der UNO-Sicherheitsrat beschliesst. Im Fall des Angriffs auf die Ukraine hätte die Schweiz keine Sanktionen ergreifen können. Denn der UNO-Sicherheitsrat hat keine Sanktionen gegen Russland beschlossen – Russland hat im UN-Gremium ein Vetorecht.

Die Gegner sehen im Sanktionsverbot «Handschellen», die man dem Bundesrat anlege, eine grobe Einschränkung der schweizerischen Sicherheits- und Aussenpolitik.

Pilatus-, Tell- und Marignano-Referenzen

Franziska Roth (SP/SO) führte Pontius Pilatus und seine scheinbare Unschuld ins Feld. Wie Pilatus’ Wasserschale sei auch die Bezeichnung der Initiative irreführend: Es gehe nicht um Neutralität, sondern um ein Sanktionsverbot. Auch Tiana Moser (GLP/ZH) wollte an der «agilen Auslegung» der Neutralität festhalten. Letztere solle nicht zum Selbstzweck werden, sondern eines von mehreren Instrumenten bleiben, welches dem Schutz und der Sicherheit der Schweizer Bevölkerung diene.

Andere beschworen wahlweise Entscheidungen nach der Schlacht von Marignano, der Gründung der modernen Schweiz 1848, dem Wiener Kongress, dem Zweiten Weltkrieg oder dem Kalten Krieg. Die Initiative führe gar in die Hohle Gasse, so Binder. Nur, dass Wilhelm Tell in dieser Version nicht Gessler niederschiesse: «Sondern sich selbst.»

Ein SP-Mann schert aus

So klar die Haltung gegen die Initiative war, so gross schien die Angst vor dem Abstimmungskampf. Sie halte persönlich wenig davon, die bisherige Handhabung der Neutralität einzugrenzen. Doch die Gefahr sei gross, dass die Gegner der Initiative in der Kampagne als Gegner der Neutralität dargestellt würden, sagte etwa Andrea Gmür (Mitte/LU).

Es werde auf die Frage hinauslaufen, was man denn machen wolle, wenn man die Initiative ablehne, sagte Pirmin Bischof (Mitte/SO): «Dagegen mit einem ‹Nichts› anzutreten, ist gefährlich.» Der Gegenvorschlag solle die problematischen Teile – wie das Sanktionsverbot – beseitigen und die bisherige Praxis in der Verfassung verankern.

Offen für die Initiative weibelte Daniel Jositsch (SP/ZH), der einmal mehr von der Parteilinie abwich. Mit der bisherigen Gesetzgebung sei die Neutralität zwar in der Schweiz verankert: «Aber was das genau heisst, weiss niemand.»

Es brauche eine klare Definition, wie sie sowohl die Initiative als auch der Gegenvorschlag liefern würden, sagte Jositsch. Eine davon sei lediglich etwas enger als die andere.

Anders sah das Bundesrat Ignazio Cassis (FDP). Die Absichten jener, die den Gegenvorschlag befürworten würden, seien widersprüchlich. Der Gegenvorschlag gebe dem Bundesrat keine Richtlinien vor und keinen Mehrwert – zumindest, wenn er wirklich nur die bisherige Praxis des Bundesrats festschreiben solle.

Das Lager der Befürworter des Gegenvorschlags sei aber gespalten: Ein Teil will damit die bisherige Praxis festschreiben, wieder andere argumentierten im Rat damit, dass der Gegenvorschlag der Initiative entgegenkomme. Für eines von beidem müsse man sich entscheiden, sagte etwa Matthias Michel (FDP/ZG): «Ansonsten wünsche ich Ihnen viel Vergnügen im Abstimmungskampf.»

Und doch fiel das Resultat nach zwei Stunden Debatte unerwartet deutlich aus. Mit 35 zu 8 Stimmen lehnte die kleine Kammer die Neutralitätsinitiative ab – und stimmte mit 27 zu 15 Stimmen bei einer Enthaltung dem Gegenvorschlag zu.

Als Nächstes wird beides im Nationalrat behandelt. Dort könnten auch alternative Formulierungen und Präzisierungen für den Gegenvorschlag diskutiert werden, hiess es von verschiedener Seite in der Ständeratsdebatte. Damit man mit einem guten Gegenvorschlag in den Abstimmungskampf ziehen kann.