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Wie diese 60-Jährige nach 17 Jahren aus einer Ehe ausbrach und ein relativ spätes Coming-out erlebte

Bianca Ritter spürte schon als kleiner Bub, dass sie anders ist. Doch erst mit Mitte 40 liess sie das Leben als Christoph hinter sich. Wie sie sich in ihrer neu gewonnenen Freiheit auslebte, wie ihr BDSM half, in der Rolle als Frau anzukommen, und wie es ihr heute geht. Die AZ hat die 60-Jährige getroffen.

Wenn Bianca Ritter an ihrem Stubentisch sitzt, sich die ins Gesicht fallenden Haarsträhnen von der Wange streift und einen mit ihren blauen, mit schwarzem Lidstrich umrahmten Augen fixiert, spürt man sofort: Diese Frau hat etwas zu erzählen. Von einem Leben, das nicht immer einfach war. Und doch ist es ihr Leben, in dem irgendwann aus einem scheuen Buben die heute geerdete Bianca wurde.

Aufgewachsen im Zürcher Oberland, spürte Ritter schon früh, dass sie irgendwie anders war. Als Beispiel nennt sie ein Mädchen in der Primarschule, das enorme Anziehungskraft auf sie gehabt habe – vor allem wegen eines blauen Kleidchens, das es zum Turnen anhatte. «Ich hätte sie gern geküsst. Doch noch viel lieber hätte ich ihr hübsches Kleidchen selber angezogen», sagt Ritter. Doch wohin hätte der kleine Christoph in den 70er-Jahren mit solchen Gedanken und Sehnsüchten gehen sollen?

Ritter schwieg. Währenddessen ging das Leben mit einer liebevollen Mutter und einem Vater, der krankheitsbedingt an brennenden Kopfschmerzen litt und dadurch auch häufig ausser Rand und Band geriet, Jahr für Jahr weiter. Ritter war erst 15 Jahre alt, als ihre Mutter und sie sich vom Vater nach dessen Suizid verabschieden mussten.

Sie absolvierte eine KV-Lehre und fand später ihre Berufung als Journalistin. Der Wunsch in ihr, als Frau zu leben, wurde immer grösser – doch stets unausgesprochen. «Irgendwann begann ich, ab und zu in der Damenabteilung einzukaufen. Ich shoppte aber immer Kleidungsstücke, die noch knapp als Herrenmode durchgingen», erzählt Bianca Ritter. Die feminine New-Romantic-Welle der frühen 80er, in der Männer auch Rüschenhemden, Stiefeletten, Pluderhosen und Make-up trugen, faszinierte sie.

In Kenia lernte sie damals ihre Frau kennen

Die Jahre zogen ins Land. Eine Frau anzusprechen oder gar eine Freundin zu haben, war damals schwierig. Viel zu schüchtern war Ritter als junger Mann. Zuflucht fand sie immer in der Musik. «Heute bin ich ein wandelndes Musiklexikon», sagt sie und lacht.

1988 lernte Ritter auf einer Reise nach Kenia eine Einheimische kennen. Die junge Frau zog in die Schweiz, das Paar heiratete bald und lebte ein mehr oder weniger gewöhnliches Eheleben mit zwei Kindern in der Zürcher Agglomeration – so, wie es wohl viele führen. Die eigene Mutter immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde. «In der Rolle als Grosi ging meine Mutter richtiggehend auf», sagt Ritter. Und Bianca Ritter selber? Der innere Drang, nicht mehr der Christoph zu sein, für den ihn alle hielten, liess sie über all die Jahre nie los.

Nach 17 Jahren in einer Ehe, aus der die zwei heute erwachsene Töchter herausgingen, kam es zum Zerwürfnis. Bianca Ritter stand plötzlich ohne Frau und Kinder da. «Für mich war klar: Wenn ich aus diesem familiären Konstrukt ausbreche, muss ich auch sonst etwas drastisch ändern», sagt sie. Den Gedanken folgten Taten.

Die Leute drehten sich nach ihr um

Nach der Trennung 2006 fing Ritter an, mehr und mehr öffentlich als Frau zu leben. «Ich kleidete mich sehr sexy. Die Leute drehten sich nach mir um, wenn ich einen Raum betrat», erzählt die heute 60-Jährige. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die ihr neues Ich mit sich brachte. 2010 folgte die geschlechtsangleichende Operation.

Da sie durch den frühen Tod des Vaters als Jugendliche keine Pubertät durchlebt habe, sei diese erst mit Mitte 40 eingetreten. «Ich begann, mich auszuleben», sagt Ritter. Zuerst mit verschiedenen Männern, später mit Stefan – dem Mann ihres Lebens, wie Bianca Ritter heute sagt. «Der BDSM hat mir damals geholfen, in meiner neuen Rolle anzukommen.» Die sexuelle Vorliebe, die von Dominanz und Unterwerfung sowie von Lustschmerz und Fesselspielen lebt, zog Ritter in ihren Bann.

Stefan habe in ihr nie einen Mann gesehen. Im Gegenteil. Er liebte diese spezielle Frau an seiner Seite. Mit ihm konnte sie sich ausleben. Experimentieren. Eine Seite an sich kennenlernen, die viel zu lange schlummerte. Über Jahre organisierte das Paar Fetisch-Partys, zelebrierte die eigenen Vorlieben und lebte gleichzeitig eine glückliche Beziehung, zu der auch der Alltag, das Reisen sowie die Musik gehörten.

Hadern mit dem Älterwerden

Heute lebt Bianca Ritter mit ihrer Partnerin in Eiken. Hier im Fricktal ist sie sesshaft geworden. Sie sei ein glücklicher Mensch, der sich «vögeliwohl» fühle. Mit ihrem Ex-Partner Stefan pflegt sie nach wie vor ein sehr freundschaftliches und wunderbares Verhältnis.

Bianca Ritter erwähnt im Gespräch ihre Töchter. Zur älteren der beiden ist der Kontakt seit Jahren schwierig, es herrscht fast Funkstille. «Nachdem ich damals als Transfrau in zwei Talk-Shows und im ‹Club› auf SRF aufgetreten bin, wurde speziell die jüngere Tochter stark gemobbt in der Schule», sagt sie. Ritter atmet tief aus. Sie ist aber dankbar, dass wenigstens dieser Kontakt heute sehr offen ist. «Ich bin sehr stolz auf beide Kinder, die eine ist als Köchin, die andere als Fotomodell erfolgreich», resümiert sie.

Die Front des Buchs von Bianca Ritter.
Bild: zvg

Doch manchmal hadert Bianca Ritter. Das Älterwerden macht der Fricktalerin ab und an zu schaffen. «Der Blick in den Spiegel ist nicht mehr der gleiche», sagt sie. Kaum sei sie mit Mitte 40 ausgebrochen und habe sich ausleben können, sei sie jetzt 60 Jahre alt. Und doch sei sie im Laufe der Jahre auch ruhiger geworden. «Ich muss heute nicht mehr auf jeder ‹Hundsverlochete› dabei sein», sagt Ritter. Eine Stubenhockerin sei sie dennoch nicht. «Am liebsten besuche ich nach wie vor Konzerte», sagt sie.

Es ist die Musik, die sich neben der Suche nach sich selber wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht. Und nicht nur das. In ihrer kürzlich veröffentlichten Autobiografie «Ausser man tut es» ist es ebenfalls die Musik, die den Kapiteln jeweils einen Untertitel gibt. Mit jeweils einem Songtitel sowie dem dazugehörigen Interpreten gibt sie ihren vielen Stationen, die sie in ihren 60 Jahren durchlebt hat, jeweils die richtige Melodie mit auf den Weg.