
«An dich denke ich zuletzt, wenn es um Solidarität geht»: Ungarns Aussenminister löst via Internet eine staatspolitische Krise aus
«Diplomatenbeef vom Feinsten» nennt es ein Kommentator in astreinem Influencer-Deutsch. Doch Normalsterbliche reiben sich verwundert die Augen. Funktioniert so heute der Umgang zwischen europäischen Staaten und ihren Ministern? Wer gedacht hätte, dass das Unterbieten jeglicher Standards bloss vom Weissen Haus ausgeht, sollte dieser Tage nach Osteuropa schauen.
Dort beklagte sich Ungarns Aussenminister Peter Szijjarto öffentlich über die ukrainischen Luftangriffe auf die russische Ölpipeline Druschba («Freundschaft») von vergangener Woche. Diese gefährdeten die Versorgungssicherheit des Landes, Ungarn müsse mit einem fünftägigen Lieferausfall von Rohöl aus Russland rechnen.
Gemeinsam mit seinem slowakischen Amtskollegen schickte Szijjarto am Freitag einen Klagebrief an EU-Aussenkommissarin Kaja Kallas. Angesichts der EU-Milliardenhilfen an Kiew (welche Ungarn und die Slowakei stets zu blockieren versuchen) sei das ukrainische Verhalten «vollständig inakzeptabel». Szijjartos Chef, Viktor Orbán, intervenierte wegen der ukrainischen Luftangriffe bei US-Präsident Donald Trump. Dieser zeigte sich «sehr wütend» über die Meldung seines ungarischen Freundes.
Gleichzeitig führte Budapest beratende Gespräche mit Moskau. Der stellvertretende russische Energieminister Pavel Sorokin habe Szijjarto zugesichert, alles für eine rasche Reparatur der Druschba-Pipeline zu unternehmen. Das schrieb der ungarische Chefdiplomat am Wochenende.
Der Konflikt eskaliert in den sozialen Medien
Trotzdem steigert sich der Zwist in eine regelrechte Krise zwischen Polen und der Ukraine samt ihrer europäischen Verbündeten. Hauptsächlich dafür verantwortlich ist die Eskalation, die aktuell in den sozialen Medien stattfindet.
Polens Vizepremier Radoslaw Sikorski war der erste, der auf Szijjartos offensichtliche Doppelmoral reagierte: «Peter, du bekommst dieselbe Solidarität von uns wie wir von dir», antwortete Sikorski im Kurznachrichtendienst X – sprich, gar keine. Polen ist schon lange über Ungarns Blockadepolitik gegenüber der EU und Ukraine verärgert, obschon Warschau mit Kiew eigene Spannungen wegen der ukrainischen Agrarexporte austrägt.
«Glaube mir, an dich denke ich zuletzt, wenn es um Solidarität geht», giftelte Szijjarto zurück. Der frühere litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis eilte umgehend Sikorski zu Hilfe: «Das Wort ‹Solidarnosc› ist genau das, woran ich bei Polen denke», schrieb Landsbergis in Anspielung auf die legendäre Gewerkschaft und Protestbewegung, die Wegbereiter für das Ende des Kommunismus in Polen war.
Aber auch zu Beginn der neuen Woche lässt der ungarische Aussenminister nicht locker. Jetzt sieht er sogar die Eigenständigkeit und territoriale Integrität seines Landes direkt von Wolodimir Selenski bedroht.
Der ukrainische Präsident antwortete am Unabhängigkeitstag scherzhaft auf eine Reporterinnenfrage bezüglich der Folgen der Druschba-Angriffe: «Wir haben stets viel Wert auf die Freundschaft mit Ungarn gelegt, und jetzt hängt die Fortsetzung der Freundschaft von der ungarischen Position ab.»
Ein Wortspiel stösst auf Unverständnis
Für den polnischen Aussenminister, der das Wortspiel mit Druschba offensichtlich nicht kapierte, war das Anlass, von Selenski auf X ultimativ «ein Ende der Drohungen gegenüber Ungarn und den Stopp der Angriffe auf Ungarns Energieversorgung» zu verlangen.
Den bisher letzten Akt in diesem diplomatischen Drama setzte der ukrainische Aussenminister Andri Sybiha am Montag: «Ich antworte dir jetzt auf ungarische Weise. Du hast dem ukrainischen Präsidenten nicht zu sagen, was er zu tun oder zu sagen hat.» Schliesslich liege die ungarische Energieversorgungssicherheit in Szijjartos eigenen Händen: «Diversifiziere und werde unabhängig von Russland, wie der Rest von Europa», schlug Sybiha seinem ungarischen Amtskollegen vor.
Angesichts des Umstandes, dass die ukrainischen Luftangriffe auf die Druschba-Pumpstation im westrussischen Gebiet Brjansk nicht im entferntesten eine Verletzung von ungarischem Staatsgebiet darstellen, stösst Aussenminister Peter Szijjarto mit seinen «Das ist nicht unser Krieg!»-Posts auf wenig Verständnis; zumindest ausserhalb des russischen Einflussbereichs.
Zunehmend im Netz verbreitet wird ein fingiertes Filmplakat «Dependence Day» («Abhängigkeitstag»), das Putins ungarische Unterstützer aufs Korn nimmt. Ungarn und die Slowakei sind die einzigen beiden europäischen Länder, die via Druschba-Pipeline noch das sanktionierte russische Rohöl importieren und damit Putins Kriegsanstrengungen gegen die Ukraine mitfinanzieren; allein im Juli für total über 400 Millionen Franken.
Allerdings bezieht auch Deutschland über das russische Pipelinesystem Transit-Öl aus Kasachstan. Laut Angaben der Bundesregierung vom Wochenende sei die Energieversorgung in Deutschland aber nicht beeinträchtigt; es stünden genug Alternativen zur Verfügung.