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«Ausgedient», «erfüllt Funktion nicht mehr», «schädlich»: Thomas Borer fordert Abschaffung der Neutralität

In den 1990er-Jahren arbeitete er an vorderster Front mit bei der Aufarbeitung der Verfehlungen der Schweizer Neutralitätspolitik in den Weltkriegsjahren. Nun will Thomas Borer die Neutralität abschaffen.

Sie ist die grösste Zeitung der US-Hauptstadt. Und sie geht immer mal wieder hart ins Gericht mit der Schweiz. Bisweilen sogar sehr hart. Und auch jetzt wieder anerbietet sich die «Washington Post» als Plattform für einen Angriff auf die Schweiz. Und zwar für einen Frontalangriff auf die Neutralitätspolitik des Landes.

Konkret geht es um einen Meinungsartikel von Thomas Borer, den die «Post» am Donnerstag publiziert hat. Sie trägt damit die Meinung des ehemaligen Schweizer Botschafters, die er bereits vor bald einem Monat identisch auch im «Tages-Anzeiger» kundgetan und zuvor auch CH Media angeboten hatte, über den grossen Teich.

Der Unternehmensberater und Lobbyist sowie ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin und vormaliger Leiter der Taskforce Schweiz – Zweiter Weltkrieg (von 1996 bis 1999) rät im Text der Schweiz:

«Es ist an der Zeit, dass die Schweiz die Neutralität aufgibt.»

Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der sich verschärfenden Beziehungen zwischen Russland und China muss sich die Schweiz laut Thomas Borer die Frage stellen: «Nützt oder schadet die dauernde Neutralität unserem Land?»

Traditionell erfüllte die Schweizer Neutralität laut Borer vier Funktionen, die ihre Existenz rechtfertigen:

– Geopolitische Stabilität

– Aufrechterhaltung der militärischen Sicherheit

– Gute Dienste

– Innere Stabilität und Frieden

Während letztere Funktion dank dem Frieden zwischen den Kantonen «glücklicherweise (…) obsolet» geworden sei, könne die Schweiz ihre guten Dienste auch ohne strikte Neutralitätspolitik wahrnehmen. Und weil es heute kaum noch vorstellbar sei, dass die Schweiz ohne umliegende Länder in einen militärischen Konflikt hineingezogen werde, entfalle auch das Argument der geopolitischen Stabilität.

Darum, so Thomas Borers Fazit:

«Die Neutralität ist für die Schweiz nur dann von Wert, wenn sie international anerkannt ist.»

Laut dem ehemaligen Botschafter wird die Schweiz aber «nicht mehr als neutral wahrgenommen – weder von Russland noch vom Westen». Und Borer hat dafür auch ein exaktes Datum: die Übernahme der internationalen Sanktionen gegen Russland als Folge des Ukraine-Kriegs.

Da nütze dieses aussenpolitische Instrument nichts mehr, wenn es auf internationaler Ebene nicht mehr verstanden und akzeptiert werde. Folglich könne man es besser gleich abschaffen.

Kommt laut Thomas Borer hinzu, dass «unsere militärische Neutralität, insbesondere das Verbot von Waffenexporten», dem Ansehen der Schweiz in den westlichen Ländern zusätzlich schade. Als Folge davon werde die Schweiz nicht mal mehr als neutral angeschaut, sondern schlicht nur noch als «egoistisch». Fazit:

«Kurzum, unsere Neutralität hat ausgedient.»

Denn, so Thomas Borer, die bisherige Neutralität «erfülle viele ihrer traditionellen Funktionen nicht mehr». Vielmehr sei diese inzwischen «sogar schädlich für die Schweiz».

Ganz so Schwarz-Weiss, wie dies der undiplomatische ehemalige Diplomat in dem Gastbeitrag in der «Washington Post» formuliert, wird das hierzulande beileibe nicht gesehen.

Der Bundesrat hat sich erst im vergangenen Herbst für die Beibehaltung der bisherigen Neutralitätspolitik aus dem Jahr 1993 ausgesprochen – und damit Aussenminister Ignazio Cassis einen Dämpfer versetzt. Dieser hatte sich nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs mit der Wortschöpfung der «kooperativen Neutralität» weit aus dem Fenster gelehnt – und am Ende damit nur Verwirrung gestiftet.

SVP sammelt Unterschriften für Neutralitäts-Initiative

Dennoch ist die Schweizer Neutralitätspolitik nicht ganz in Stein gemeisselt. So hat sich kürzlich die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats im zweiten Anlauf dafür ausgesprochen, dass Deutschland im zweiten Anlauf nun doch ein paar ausgemusterte Panzer der Schweizer Armee kaufen darf. Das letzte Wort wird allerdings das Parlament haben.

In der Schweiz werden derzeit Unterschriften gesammelt für die sogenannte Neutralitäts-Initiative. Dieses Volksbegehren ist im vergangenen November lanciert worden und will die «immerwährende und bewaffnete Neutralität» in der Verfassung verankern. Kopf der Neutralitäts-Initiative ist der Solothurner SVP-Nationalrat Walter Wobmann. Initiiert worden war die Neutralitäts-Initiative jedoch von Christoph Blocher.