Sie sind hier: Home > Gerichtsverhandlung > Update: «Es wäre ein grosses Experiment»: Brians Anwaltsteam erklärt, wie der berühmte Häftling Profiboxer werden soll

Update: «Es wäre ein grosses Experiment»: Brians Anwaltsteam erklärt, wie der berühmte Häftling Profiboxer werden soll

Der berühmteste Häftling der Schweiz ist wegen Angriffen auf Gefängnispersonal angeklagt. Das Protokoll live aus dem Gerichtssaal.

Worum geht es?

Brian Henry Keller ist 28 Jahre alt und sitzt seit sechs Jahren in Gefängnissen. Er hat insgesamt eine längere Zeit hinter Gittern verbracht als in Schulen. In Haft attackierte er regelmässig das Personal, weshalb diese immer wieder verlängert wurde.

Heute Montag beginnt ein weiterer Prozess gegen ihn. Er muss sich wegen 32 Vorfällen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies verantworten. Der schwerste Fall betrifft einen Aufseher, den Brian mit einem Glasbruchstück am Kopf getroffen hat. Die Splitter lagen in Brians Zelle, nachdem er randaliert hatte. Das Personal wollte danach die Zelle reinigen.

Brians Lebenslauf

Mit 3 Jahren kommt er von einer afrikanischen Grossfamilie in Paris zu seinem Vater nach Zürich. Er ist ein hyperaktives Kind.

Mit 10 wird er zu Unrecht der Brandstiftung verdächtigt und zum ersten Mal inhaftiert.

Mit 12 geht er auf seinen Vater los und muss acht Monate in Einzelhaft verbringen.

Mit 15 sticht er jemanden mit einem Messer zweimal in den Rücken. Es ist sein 34. Delikt. Er muss ins Gefängnis und in die Psychiatrie, wo er ans Bett gefesselt wird.

Mit 17 erhält er ein Sondersetting. Ein SRF-Film macht ihn unter dem Pseudonym Carlos berühmt. Die Behörden brechen die Massnahme darauf ab. Er kommt wieder ins Gefängnis.

Mit 21 bricht er jemandem im Tram den Unterkiefer. Seither sitzt er in Haft. Dort geht er auf Aufseher los. Dafür wird er erneut verurteilt.

Heute ist Brian 28 Jahre alt. Derzeit sitzt er in U-Haft im Bezirksgefängnis Zürich.

Warum ist das wichtig?

Diese Frage stellen Leserinnen und Leser regelmässig. Viele wundern sich, dass ein Straftäter in den Medien eine «Plattform» erhalte. Doch darum geht es nicht. Der Fall ist relevant, weil er aufzeigt, wie das Justizsystem in Extremsituationen an seine Grenzen kommt. Der Rechtsstaat muss sich daran messen lassen. Wie geht er mit gefährlichen Straftätern um? Wie bewahrt er dabei die Menschenwürde?

Was sagt Brian?

Brian verteidigt sich auf Instagram. Mit mutmasslich geschmuggelten Handys veröffentlicht er regelmässig Videos aus seiner Zelle. Er sagt, der Aufseher habe durch die Glasscherbe «nur ein blaues Auge» erlitten. Er selber sei viel stärker verletzt worden.

Man mache ihn zu einem Monster. «Selbst wenn ich ein Monster wäre – ich bin sicher kein Engel – kein Mensch darf so behandelt werden», klagt er. Damit meint er, dass er jahrelang zu Unrecht in Haft sitze. Seine Verteidiger argumentieren, er habe in einer Notsituation zugeschlagen.

Brian sucht die Öffentlichkeit mit seinen Onlinevideos und ausgewählten Interviews. Doch vor Gericht will er sich nicht erklären. Er hat sich von der Verhandlung dispensieren lassen.

Im Saal nimmt dafür sein Vater Max Keller Platz. Mit Verspätung erscheint auch seine Mutter.

Wie läuft der Prozess ab?

Die Verhandlung beginnt um 8.30 Uhr am Bezirksgericht Dielsdorf. In dessen Gebiet liegt der Tatort, die JVA Pöschwies. Das Gericht wird das Urteil am 8. November verkünden.

Hängig ist zudem ein zweites Strafverfahren gegen Brian wegen früheren Angriffen in der JVA Pöschwies. Das Bundesgericht hob den Schuldspruch jedoch auf, da das Zürcher Obergericht Brians Haftsituation zu wenig berücksichtigt hatte. Deshalb ist dazu derzeit ein Gutachten in Arbeit.

Die Zürcher Staatsanwaltschaft wollte dieses Urteil abwarten, doch das Gericht lehnte dies ab. Weil Brian schon so lange in Haft sitze dränge die Zeit.

Das Bezirksgericht überträgt die Verhandlung per Video in drei Gerichtssäle, wo die Journalistinnen und Journalisten sitzen.

Warum muss Brian nicht vor Gericht erscheinen?

Schon bei der letzten Verhandlung stellte Brian ein entsprechendes Gesuch. Als Begründung gab er den Medienrummel an. Damals lehnte das Gericht das Gesuch zuerst ab. Doch Brian weigerte sich, seine Zelle zu verlassen. Der Gerichtspräsident besuchte ihn darauf in seiner Zelle. Dabei kam er zum Schluss, dass es nicht verhältnismässig wäre, Brian mit Polizeigewalt vor Gericht zu bringen.

Heute sagt der Gerichtspräsident: «Das Gericht hätte Brian auch diesmal gerne angehört.» Doch da Brian dies ablehne, habe das Gericht nun auf das «ganze Rösslispiel» verzichtet. Damit meint er ein Polizeiaufgebot, das Brians Widerstand zu brechen versuche. Zudem habe Brian ohnehin das Recht, alle Aussagen zu verweigern. Deshalb habe das Gericht das Gesuch nun von Anfang an bewilligt.

Wie stuft ein Strafrechtsprofessor Brians Haft ein?

Strafrechtsprofessor Jonas Weber beurteilt Brians Haftsituation. Er spricht vor Gericht als sachverständiger Zeuge. Sein Zwischenfazit lautet: Brians Haft hat «teilweise nicht Gesetzen und Konventionen entsprochen». Er bezieht sich auf die Zeit zwischen 2018 und 2022. Damals sass Brian in Einzelhaft.

Weber stuft Brians Fall als «gravierend» und «sehr problematisch» ein. Damit meint er dessen Haftbedingungen. Brian sei «vulnerabel». Deshalb gelte ein strenger Massstab für die Bewertung, ob der Häftling unmenschlich behandelt worden sei. Weber bejaht dies.

Er spricht von «menschenrechtlich verbotener Langzeit-Einzelhaft», weil drei Bedingungen erfüllt seien.

1. Die Einzelhaft dauerte länger als 15 Tage. Diese Dauer wurde weit überschritten. Brian war während 3,5 Jahren unter Hochsicherheitsbedingungen inhaftiert. 2. Pro Tag hatte Brian nicht mindestens zwei Stunden die Möglichkeit für «sinnhafte zwischenmenschliche Kontakte». Damit meint der Gutachter Begegnungen von Angesicht zu Angesicht. Kontakte zu Gefängnispersonal zählt er nicht dazu. Brian durfte zwar Besuch empfangen, aber nur hinter Trennscheibe und gefesselt. 3. Als ausgleichende Massnahme lockerte das Gefängnis nicht Brians Kontakte zur Aussenwelt, etwa über Videotelefonie, und bot ihm auch keine besondere Beschäftigung an. Im Gegenteil: Die Anstalt schränkte die Hofgänge ein.

Weber meint, das Haftregime lasse sich nicht durch Brians renitentes Verhalten rechtfertigen. Er sagt: «Mehr soziale Kontakte wären möglich gewesen.» Die Bemühungen dafür stuft er als «unzureichend» ein.

Zudem kritisiert der Strafrechtsprofessor, dass keine anstaltsexternen Ärzte Brian untersuchten. In Einzelhaft wäre dies notwendig. Brian habe Misstrauen gegenüber den Ärzten geäussert. Doch die Institution habe deren Unabhängigkeit nicht in Frage gestellt, kritisiert Weber. Sein Fazit: «Auch die medizinische Versorgung hält menschenrechtliche Vorgaben nicht ein.»

Das Gutachten könnte bei der Beurteilung des Falls eine Kehrtwende bedeuten. Weber bestätigt als amtlicher Gutachter die Argumente von Brians Anwaltsteam.

Wie geht es Brian psychisch?

Henning Hachtel ist Psychiater an der Basler Universitätspsychiatrie. Er kennt Brian nur von den Akten, weil dieser nicht mit ihm sprechen wollte. Hachtel diagnostiziert Brian eine «dissoziale Persönlichkeit mit psychopathischen Wesenszügen» sowie Erwachsenen-ADHS. In Haft sei er depressiv geworden.

Bei der letzten Gewalttat in Freiheit war Brian 21. Heute ist er 28. Nimmt sein Risiko für Gewaltstraftaten mit dem Alter ab? Diese Frage stellt der Richter dem Gutachter. Hachtel bejaht, dass dieses Risiko mit dem Alter tendenziell abnehme – «aber erst mit ungefähr 50 Jahren».

Ein aktueller Führungsbericht des Zürcher Bezirksgefängnisses erteilt Brian gute Noten. Seit fast zwei Jahren verhalte er sich höflich, halte sich an Absprachen und Termine und finde sich auch in grösseren Gruppen gut zurecht. Er könne auch ein Nein akzeptieren, wenn es sachlich begründet sei.

Nur einen negativen Vorfall erwähnt das Gefängnis: Am 13. Mai dieses Jahren fanden Aufseher bei einer Zellenkontrolle unterlaubte Gegenstände. Unter anderem stellten sie ein Mobiltelefon sicher. Darauf beschimpfte er das Personal und randalierte, allerdings verletzte er niemanden. Erst als sein Vater ihn besuchte, beruhigte er sich wieder.

Der Psychiater analysiert die Situation. «Der Vorfall zeigt, wie schnell ein gefährlicher Moment entstehen und die Situation eskalieren kann», sagt er. Generell könne man nicht von einem Wohlverhalten in Haft auf ein Wohlverhalten in Freiheit schliessen. Er bräuchte dafür ein Umfeld, das ihm rund um die Uhr wohlgesonnen sei. Brian könne sich inzwischen zwar anpassen, aber er sei jetzt kein ganz anderer Mensch. «Er wird immer mit seinen Triggerpunkten konfrontiert sein», sagt der Psychiater.

Was könnte aus Brian werden?

Brians Anwaltsteam hat dem Gericht ein Konzept für einen «Empfangsraum» vorgelegt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis soll Brian demnach durch einen Sozialpädagogen begleitet werden, der ihn regelmässig besucht hat. Zudem ist ein strenger Trainingsplan vorgesehen. Zehn Stunden pro Tag will Brian trainieren. Denn: Er will Profiboxer werden. Das Sozialamt solle ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen.

Psychiater Hachtel beurteilt das Konzept kritisch. Aus seiner Sicht wäre eine Begleitung durch einen Psychotherapeuten notwendig. Doch Brian lehnt dies ab. Das Konzept habe wenig «Fleisch am Knochen». Man müsste ein extrem intensives Setting aufbauen, meint der Psychiater. Doch intensiv sei nur das vorgesehene Boxtraining. Eine Entlassung wäre deshalb ein «grosses Experiment».

Was fordert der Staatsanwalt?

Staatsanwalt Ulrich Krättli beantragt eine hohe Gefängnisstrafe: 9 Jahre und 7 Monate

Er stellt fest, dass Brian seit 2019 nicht mehr mit ihm gesprochen habe. Dieser habe nicht nur die Aussage verweigert, sondern auch vehement den Gang zum Staatsanwalt. Selbst eine Befragung aus dem Gefängnis per Videoübertragung habe er abgelehnt. Stattdessen habe er im gleichen Raum später dem Schweizer Fernsehen ein Interview gegeben.

Was der Staatsanwalt nicht erwähnt: Auch auf Instagram äusserte sich Brian. Er zeigte ein Bild von sich mit angespanntem Bizeps. «FICK DEN STAATSANWALT UND DEN RICHTER», schrieb er dazu.

Der Staatsanwalt kritisiert das Gericht für die Gutheissung des Dispensationsgesuchs: «Brian ist zwingend zu seiner möglichen Zukunft in Freiheit persönlich anzuhören.» Derart wichtige Fragen sollten nicht in seiner Abwesenheit verhandelt werden. Auch seine Opfer müssten direkt aus seinem Mund erfahren, dass sie nichts von ihm in Freiheit zu befürchten hätten.

Zum schwersten Vorfall, zur Verletzung eines Aufsehers mit einem Glasbruchstück, sagt der Staatsanwalt: «Es braucht keine überdurchschnittliche Intelligenz, um zu wissen, dass dadurch eine schwere Augenverletzung entstehen könnte. Das dürfte selbst einem kleinen Kind bekannt sein.»

Die Verteidiger, die einen Notstand geltend machen, erinnert der Staatsanwalt an die Rechtsgrundlagen. Nur wenn er sich in einer psychischen Notlage befunden hätte, wäre seine Gewalt gegen die Aufseher zu rechtfertigen. Doch dies bestreitet der Staatsanwalt.

Schon als Kind habe Brian andere Kinder geschlagen. Deshalb kam er immer wieder in Gefängnisse und Psychiatrien. Und dort sei er auf Mitinsassen losgegangen. «Die Liste der Gefängnisse, in denen Brian gewütet hat, ist lange», sagt der Staatsanwalt. Im Berner Gefängnis Thorberg habe er sogar von der Feuerwehr aus seiner eigenen Zelle gerettet werden müssen, weil er diese so stark demoliert habe. Aus diesem Grund sei er immer stärker abgeschirmt worden.

Der Staatsanwalt gibt dem Angeklagten die Schuld für die Eskalationen: «Brian hatte regelrecht Spass daran, gegen die JVA Pöschwies in den Krieg zu ziehen.» Es sei zwar zu berücksichtigen, dass er eine schwere Jugend hatte. Doch nicht jeder Jugendliche mit Problemen, wende derart Gewalt an.

Die Rückfallgefahr stuft der Staatsanwalt als hoch ein. Und zwei Drittel der beantragten Strafe habe er noch lange nicht abgesessen. Deshalb müsse er in Haft bleiben, findet er.

Der Staatsanwalt gibt weitere Details aus Brians Zukunftsplan bekannt: «Brian will sogar Boxweltmeister im Schwergewicht werden.» Viele Fragen würden im Konzept aber offen bleiben. Zum Beispiel: Wer finanziert die Massnahmen? Und was sind seine Pflichten?

Was fordert die Verteidigung?

Brians Anwälte fordern einen Freispruch und Schadensersatz von 50’000 Franken sowie 2000 Franken Genugtuung für jeden Hafttag.

Anwalt Thomas Häusermann: «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.» Und es sei nicht Brian gewesen, der in den Wald hineinrufe, sondern die Behörden.

Der Staatsanwalt wolle ein Märchen vorgaukeln, wonach Brian grundlos Gewalt angewendet habe. Doch diese Geschichte sei falsch. Brian habe nur auf die Haftbedingungen reagiert. Sein gutes Verhalten im Bezirksgefängnis beweise dies.

++ Das Urteil folgt am 8. November ++