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Vom Mut zur Lücke zum Mut zum Füllen

Gedanken zum Palmsonntag von Didier Sperling, reformierter Pfarrer in Aarburg.

Vor einem Jahr war ich in der Innerschweiz, im Kanton Uri unterwegs, als etwas Schnee im Flachen die Landschaft so richtig schön in ein winterlich weisses Kleid hüllte. Mitten im gefühlten Frühling der Märzsonne. Fast war mir, als stimme etwas nicht: wieder Schnee? Alles in mir war durch die warmen Wochen zuvor bereits auf Frühling mit seinem Erwachen eingestellt. Aber, da war noch etwas anderes, das sich in meine Wahrnehmung dieser schneebedeckten Landschaft nicht einfügte, ja, fast schon störte: Ich sah plötzlich überall Palmen in den Gärten um die Häuser an der Strasse.

Palmen! Ist mir früher gar nicht aufgefallen. Da waren überraschend viele Palmen. Mit Palmen verbinde ich in erster Linie das Tessin und die südlichen Länder Europas. Ich war überrascht. Ich hatte es all die Jahre nicht wahrgenommen, dass entweder die Palmen (im Tessin als Unkraut bekannt) über die Alpen zu uns gewandert sind, oder eine südliche Baumschule (gibt es auch «Palmschulen»?) in der Innerschweiz sehr aktiv geworden ist und einen neuen Markt mit ihren Palmen erschlossen hat.

Sie haben es bemerkt: Ich wurde angefragt, einen Festtagsartikel zum Palmsonntag zu schreiben, was ich gerne tue. So viel also schon mal zum «Palm». Und nun komme ich zum Sonntag und danach zum Palmsonntag.

Viel brauche ich dazu nicht zu schreiben. Alle wissen, wie der Sonntag ist: für viele arbeitsfrei und Zeit zur Verfügung haben für Menschen und Aktivitäten, welche sonst oft zu kurz kommen oder wir dafür keine Zeit erübrigen können.

Aus kirchlicher und auch aus religiöser Sicht ist der Sonntag ein besonderer Tag. Der Tag der Zusammenkunft und der Gemeinschaft. Im Gegensatz zur Palme allerdings, verhält sich dieser «Markt» stark rückläufig. Das wäre die negative Deutung. Es gibt aber auch eine ehrliche und positive Deutung, wie ich nachfolgend kurz darlegen möchte.

Mut zur Lücke wird gesellschaftlich mehrheitlich als ein positives Verhalten oder als ein fortschrittlicher Zustand wahrgenommen. Das ist gut. Und eigentlich ist es sehr erfreulich, dass die Kirche inzwischen am Sonntag oft sehr viel Mut zur Lücke hat, denn es ist ehrlich. An einem Gottesdienst im März wurde das sehr deutlich sichtbar. Alle Kirchenbänke wiesen einen starken Mut zur Lücke auf. Sie waren leer. Bis auf eine, wo zwei Personen darauf Platz fanden und den höchstmöglichen Mut zur Lücke verhindert haben. Was ich daraus schliesse? Schön, waren zwei Personen da! Aber, was mache ich mit den leeren Bänken? Damit komme ich nun zum Palmsonntag.

Im Johannes-Evangelium der Bibel lesen wir: «Am nächsten Tag hörten die Menschen, die in grosser Zahl zum Passafest gekommen waren, dass Jesus auf dem Weg nach Jerusalem war. Mit Palmzweigen in der Hand zogen sie zur Stadt hinaus, um ihn zu empfangen.

Das klingt verheissungsvoll: «in grosser Zahl! Und sie zogen Jesus sogar entgegen!» Es klingt nach Markterweiterung und Wachstum! Nach Fülle und Massen! Es stellen sich mir zugleich aber auch Fragen. Zum Beispiel: wie hat dieser Jesus es geschafft, an einem religiösen Festtag so viele Menschen zu mobilisieren? Wie hat er es geschafft, dass sie sogar aus der Stadt hinaus ihm entgegenkamen?

Daher muss ich ehrlicherweise auch Fragen: Wie haben es die Kirchen geschafft, dass die Menschen aus den Kirchen ausgezogen sind? Nicht etwa, um Jesus entgegenzugehen und mit Palmzweigen zu begrüssen, sondern um ihren eigenen «Jesus-Ersatz» zu finden?

Müssig ist es, hier nach Schuldigen zu suchen und Schuldzuweisungen zu versuchen. Das überlasse ich anderen. Es ist nun mal so. Menschen sagen: Die Kirche hat versagt. Menschen sagen, die Menschen haben versagt. Was hilft das schon?

Aber, der Mut zur Lücke, sprich: Mut zu leeren Kirchenbänken, hat auch eine sehr positive Seite. Mut zur Lücke fordert gewissermassen seine Gegenspielerin heraus:

Mut zum Füllen! Denn: Ist das Glas leer, füllen wir es doch einfach wieder. So tun wir es in unserem Alltag. Also frage ich: Warum füllen wir die Kirchenbänke nicht wieder? Das wäre doch eine normale Reaktion? Aber vielleicht sollen wir nicht die Kirchenbänke füllen, sondern das Leben in den Bänken? Oder vielleicht müssen die Kirchen und die Menschen den Mut haben, zu den Menschen zu ziehen, unter ihnen zu leben und ihnen freudig zu begegnen? Und dass die Kirchen und die Menschen in der Kirche herauszufinden versuchen, weshalb Jesus solch einen unglaublichen Erfolg verbuchen konnte! Und – vielleicht müssen wir den Mut zur Lücke etwas in den Hintergrund rücken und dafür mehr Mut zum Füllen finden?

Am besten könnte uns das gelingen, wenn wir Jesus entgegen gehen und genau hinschauen, was am und nach dem Palmsonntag so alles geschehen ist und was er für uns Menschen getan hat. Und vielleicht möchten wir und die Kirchen dann Ähnliches tun für die Menschen? Und vielleicht würde das tatsächlich Häuser und Plätze in grosser Zahl draussen, ausserhalb der Kirchen füllen? Und vielleicht würde Jesus dann wieder mehr unter und mit den Menschen leben? Mehr Jesus? Weniger Kirche oder mehr Kirche anders?

Mut zum Füllen! (Mut zur Lücke haben wir ausreichend lang zelebriert.)

Damit verabschiede ich mich von der geschätzten Leserschaft, da ich im Sommer das Rentenalter erreicht haben werde. Ich ziehe der grossen Lücke entgegen und habe den Mut, sie ab dem 1. August zu Füllen.