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Von der Tragödie zur Verschwörungstheorie: Der Mythos John F. Kennedy

Er war nicht einmal drei Jahre Präsident, als er am 22. November 1963 erschossen wurde: John F. Kennedy. Ein historischer Vorfall, der sich im Gedächtnis vieler eingebrannt hat. Es wurde aber auch zur «Mutter aller Verschwörungstheorien».

Vor 60 Jahren, am 22. November 1963, wurde US-Präsident John F. Kennedy in Dallas, Texas, erschossen. Er war auf Wahlkampftour im Süden. Eine begeisterte Menschenmenge jubelte am Strassenrand, während der Präsidentenkonvoi durch die Innenstadt fuhr. Dann fielen Schüsse, der Präsident wurde im Rücken und im Kopf getroffen. Im nahe gelegenen Parkland Hospital versuchten Notärzte das Leben des Präsidenten zu retten. Aber sie hatten keine Chance. Auf der rechten Seite seines Schädels war ein klaffendes Loch, Teile des Gehirns hingen heraus.

Um 13 Uhr, rund eine halbe Stunde nach den Schüssen, wurde er für tot erklärt. Sein Nachfolger, Vizepräsident Lyndon B. Johnson, wurde gleich im Präsidentenflugzeug vereidigt, der Sarg mit dem toten Präsidenten an Bord. Die Gesetze des Staates Texas hätten verlangt, dass Autopsie und Untersuchung innerhalb des Staates Texas durchgeführt würden, aber der Secret Service setzte sich darüber hinweg. Kennedys Körper wurde schliesslich im Marine-Hospital Bethesda obduziert.

Das Attentat liess niemanden kalt. Lange galt, dass sich jeder Zeitzeuge genau an die Umstände erinnere, unter denen er von Kennedys Tod erfuhr. Abgelöst wurde dieses traumatische Erinnern erst durch 9/11, als die Flugzeuge in die Twin Towers krachten. Bei uns war es zum Zeitpunkt des Attentats auf Kennedy Freitagabend, kurz nach 19 Uhr, ich war damals sieben Jahre alt.

Mutmasslicher Täter von Nachtclubbesitzer erschossen

Der mutmassliche Täter, der 24-jährige Lee Harvey Oswald, wurde bereits rund zwei Stunden nach der Tat in einem Kino verhaftet. Er hatte nach den Schüssen seinen Arbeitsplatz, das Texas School Book Depository, verlassen, hatte sich in einem gemieteten Zimmer in den Aussenbezirken von Dallas umgezogen und seinen Revolver eingepackt. Auf dem Marsch – niemand weiss, wohin? – wurde er von einem Polizisten im Streifenwagen angesprochen. Als der ausstieg, zog Oswald seinen Revolver und erschoss den Polizisten. Mehrere Zeugen sahen ihn. Dann verliess er den Tatort und wurde schliesslich in einem Kino gestellt und verhaftet. Er hatte sich noch gewehrt, seinen Revolver gezogen und gerufen: «Jetzt ist alles vorbei!»

Im Verhör stritt er alles ab. Im Polizeigebäude wimmelte es von Presseleuten, die ihn jedes Mal mit Fragen bombardierten, wenn er durch die Gänge geführt wurde. «Ich habe niemanden erschossen, no Sir», sagte er, «ich bin nur der Sündenbock» («I am just a patsy»). Zwei Tage später schoss ihm der Nachtclubbesitzer Jack Ruby in der Parkgarage des Polizeigebäudes in den Bauch. Darauf verstarb er im Spital.

Zweifel an der offiziellen Version

Das war die entscheidende Wendung. Denn zuvor schien der Fall klar. Man hatte die Waffe, ein italienisches Infanterie-Gewehr, das Oswald per Postcoupon bestellt hatte. Und Oswalds erratisches Verhalten nach dem Attentat sprach Bände. Dazu kam der Mord am Polizisten. Aber immer mehr Stimmen wurden laut, welche die offizielle Version nicht glauben wollten. Bereits am 25. November 1963, dem Tag, an dem Kennedy beerdigt wurde, schickte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Nicholas Katzenbach ein Memo ans Weisse Haus. Darin stand: «Die Öffentlichkeit muss davon überzeugt sein, dass Oswald der Attentäter war, dass er keine Verbündeten hatte, die sich noch auf freiem Fuss befinden, und dass die Beweise derart waren, dass er vor Gericht verurteilt worden wäre.»

John F. Kennedy, die First Lady Jacqueline Kennedy und der Gouverneur von Texas John Connally lassen sich bejubeln. Wenige Minuten danach wurde der Präsident erschossen, als das Auto über den Dealey Plaza fuhr.
Bettmann

Präsident Lyndon B. Johnson und seine Berater folgten dem Rat. Johnson setzte eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Obersten Bundesrichters Earl Warren ein. Der Kampf, ob die Warren-Kommission einen guten Job gemacht oder ein Meisterstück in Vertuschung abgeliefert habe, dauert bis heute. Der Warren-Report umfasst 26 Bände und kommt zum Schluss, dass Oswald der Täter war und allein gehandelt habe.

Was dann folgt, könnte man getrost unter dem Titel «Noch einmal die Banalität des Bösen» abhandeln. Die Philosophin Hannah Arendt prägte die Wendung anlässlich des Jerusalemer Prozesses gegen den Nazi-Funktionär Adolf Eichmann. Seine Erscheinung und die Monstrosität seiner Verbrechen schienen einfach nicht zusammen zu passen. Ähnlich Oswald. Wie kann ein psychisch labiler Gestörter mit seinem Gewehr ein so grosses Unheil anrichten? Und vor allem: Was hat er davon? Da müssen andere, dunklere Mächte dahinter stecken. Denn auf die berühmte Frage nach dem Motiv («Cui bono?» – «Und wem nützt es?») bieten sich viele Antworten an.

Für Hardliner ein schwacher Präsident

Kennedy war zwar populär, aber seine Politik stiess auf viele Widerstände. Sein Vorgänger, der Weltkriegsgeneral Dwight D. Eisenhower, hatte versucht, der Welt einen zu allem entschlossenen Präsidenten zu präsentieren, der lieber die atomare Konfrontation einging als gegenüber «den Roten» einzuknicken. Kennedy setzte auf Dialog, hatte auch ein offeneres Ohr gegenüber den Ländern der Dritten Welt. Für die Hardliner war das schwach. Ein Hauptstreitpunkt waren Fidel Castro und Kuba. Die CIA hatte noch mit einem miserabel geplanten Invasionsversuch versucht, Castro zu stürzen. Kennedy hatte aber keine Luftschläge erlaubt, um die Sache noch zu retten. Vorher und nachher hatte die CIA gar mit der Mafia zusammengearbeitet, um Castro zu töten. Und der Bruder des Präsidenten, Robert F. Kennedy, hatte als Justizminister zu einem Kreuzzug gegen die Mafia angesetzt.

Die Liste der Feinde Kennedys war lang. Neben den Roten, die immer verdächtig waren, der CIA, deren Häuptlinge JFK nach der Schweinebucht ausgewechselt hatte, boten sich nicht nur die verschiedenen Mafia-Familien an, sondern auch die texanischen Öl-Milliardäre, die in Vizepräsident Johnson ihren Verbündeten im Weissen Haus zu verlieren drohten, denn Kennedy wollte ihn nicht mehr im Team haben bei der Präsidentenwahl 1964.

An Motiven fehlte es nicht, aber ausgerechnet das des Hauptverdächtigen Oswald schien schwach. Er habe sich «einen Platz in den Geschichtsbüchern» sichern wollen. Ein Schulversager, nicht sehr erfolgreicher Angehöriger des Marine-Korps, bekennender Marxist und Überläufer in die Sowjetunion, nach der Rückkehr eine gescheiterte Existenz, es fehlte nicht an Anknüpfungspunkten. Aber überzeugend war das offenbar nicht. Und dann noch Ruby … Und wenn nicht verrückter Einzeltäter («lone nut»), dann waren eben andere beteiligt. Das Kennedy-Attentat wurde zur «Mutter aller Verschwörungstheorien». Publikationen, welche erklärten, dass es «nicht Oswald allein» gewesen sein könne, schossen ab 1964 aus dem Boden.

Jackie Kennedy steht am Eingang des Weissen Hauses am 24. November 1963 mit ihren Kindern, John Jr. und Caroline. Sie warten auf die Prozession mit der der Sarg des Präsidenten ins Capitol zur Aufbahrung gebracht wird.
Keystone

Einige liessen ihre Fantasie walten, andere arbeiteten sich am Warren-Report ab. Dass es dort Inkonsistenzen und Lücken gab, war ebenso offensichtlich wie unvermeidlich. Die Anlage schien auch allzu verräterisch: Die Vorgabe – Einzeltäter – war so klar, dass man überall «Vertuschung» wittern konnte. Die «harten Fakten», das Gewehr, drei Hülsen, drei Ladebewegungen, die zu hören waren, deuteten auf drei Schüsse hin. Die «Conspirationists» mussten Hinweise auf mehr Schüsse und mehr Schützen suchen. Die Verletzungen von Kennedy und Texas-Gouverneur Connally, der ebenfalls im Auto sass, waren nicht einfach mit der ballistischen Evidenz zu erklären.

Schliesslich kam die Kommission zum Schluss, dass der erste Schuss fehlgegangen sei, der zweite den Präsidenten im Rücken getroffen habe, beim Hals ausgetreten sei und schliesslich noch Connally verletzt habe. Es klingt abenteuerlich und das Geschoss erhielt den Übernamen «Zauberkugel», aber ausgedehnte Experimente mit toten Ziegen und gelatinierten Fleischbrocken zeigten, dass es nicht unmöglich war. Der dritte Schuss traf Kennedy in den Kopf und tötete ihn.

Neben der gestörten Persönlichkeit Oswalds wurde seine Schiessfertigkeit in Frage gestellt. Wer Militärdienst geleistet hat, kann selber beurteilen, ob man mit einem Karabiner in sieben bis acht Sekunden drei Schüsse gezielt auf ein sich entfernendes Ziel in 50 bis 80 Metern Entfernung abgeben kann. Die Kommission fand: Ein Ex-Marine kann das problemlos.

1612 Seiten Verschwörungstheorie

Im Rückblick sprechen die «harten Beweise» (Ballistik etc.) ziemlich klar für einen Schützen, der mit Oswalds Gewehr schoss. Ob Oswald selbst den Abzug drückte, zeigen die Beweise direkt nicht. Aber andere Personen wurden im Texas School Book Depository nicht beobachtet. Interessanter ist es fast, die vielen Verästelungen der Verschwörungstheorien zu verfolgen. Ihre Schwächen kommen klar zutage. Sie knüpfen an einem nicht ganz geklärten Punkt an, können aber meist kein alternatives Gesamt-Szenario liefern. Und die Erzählungen, welche den vielen Verbindungen in der Kennedy-kritischen Gesellschaft nachgehen und dann alle die Leute nennen, die ein Interesse an Kennedys Tod hatten, tun sich schwer mit den Beweisen der Polizei.

Die Verschwörungstheorien liefern ein buntes Bild der US-Aussen- und Innenpolitik der 1950er- und 1960er-Jahre und ihrer Protagonisten. Und sie boten vielen Schriftstellern Anstoss für ihr Bild des JFK-Komplexes. Die interessantesten Werke sind: Don DeLillo («Libra/Sieben Sekunden») schildert Oswald im Schattenkreis einer CIA-Verschwörung. In Charles McCarry’s «Tears of Autumnn» versucht der Held, das Attentat aufzuklären, das offenbar vom Weissen Haus gesteuert wurde. Robert Littell («The Sisters») erzählt das Kennedy-Attentat als raffinierte Inszenierung zweier obskurer CIA-Agenten. Norman Mailer («Oswald’s Tale») liefert ein Psychogramm dieses «uramerikanischen Charakters». Die aufschlussreichsten Werke der JFK-Literatur sind die beiden Monster-Wälzer der Hauptkritiker der Verschwörungstheorien: Gerald Posner: «Case Closed» (608 Seiten) und Vincent Bugliosi: «Reclaiming History» (1612 Seiten, ohne Fussnoten, die auf einer CD mitgeliefert wurden).