
Wenn Sängerinnen sauer werden – Lily Allen, Alanis Morissette und ein ausgestreckter Mittelfinger
Lily Allen sorgt mit ihrem neuen Album «West End Girl» für Schlagzeilen, weil sie darüber singt, wie ihre Ehe mit «Stranger Things»-Star David Harbour kaputtging. Und zwar hemmungslos und detailliert. Er wollte eine offene Ehe, sie nicht. Doch sie machte mit, weil sie als «moderne Ehefrau» ihren Mann glücklich machen wollte. Trotzdem betrog er sie und brach die Regeln: Statt nur diskret in Hotelzimmern mit fremden Frauen zu schlafen, für die er nichts Empfand, hatte er eine Affäre mit einer Frau, die er am Filmset traf.
Nun kommt all das ausgerechnet kurz vor dem Start der letzten «Stranger Things»-Staffel ans Licht, was die Pressetour für den Schauspieler ein bisschen unangenehm machen könnte. Fies? Vielleicht. Doch Lily Allen hat allen Grund stinksauer zu sein. Manche bezeichnen das Album als «vertonten Klatsch» oder «Racheporno» und ja, die Sängerin ist selbst kein Unschuldslamm oder ein perfektes Opfer. Sie hat sich schon oft in sehr deutlichen Worten ausgedrückt und das kam längst nicht immer gut an. Doch diesmal erntet sie donnernden Applaus.
Leide gefälligst leise!
Songs über Liebeskummer und Trennungen klingen normalerweise eher herzzerreissend. Doch wenn alle Tränen geflossen und sämtliche Taschentücher voll geschnäuzt sind, kommt nach der Traurigkeit manchmal noch ein anderes Gefühl: Wut. Man ist stinksauer, blind vor Zorn und gewaltig angepisst über jene, die einem das Herz aus der Brust gerissen haben.
Das gilt nicht nur für Normalos, sondern auch für Sängerinnen und viele haben mit ihrem Liebesleben eine ganze Karriere aus dem Boden gestampft. Aber bloss nicht zu aufdringlich, nicht zu laut und auf keinen Fall «gemein». Ansonsten gelten sie sofort als mitteilungsbedürftige Sensibelchen. So wie Taylor Swift, die seit Jahren den Vorwurf vor den Latz geknallt bekommt, «nur über ihre Ex-Freunde» zu trällern. Es ist offenbar ganz etwas anderes, dass die halbe Diskografie von Drake oder The Weeknd ebenso aus deren Liebesleben besteht. Und selbst Eminem wurde mit Songs, in denen er auf seiner Ex-Frau herumhackte, zum Superstar.
Doch wenn Frauen an die Decke gehen, wird das oft nicht wirklich ernst genommen. Zumindest nicht so, wie wenn Männer ausrasten. Das wirkt schnell gefährlich, während hässige Frauen einfach als hysterisch abgestempelt werden. Frei nach dem Motto, bei dem es wohl jeder einzelnen den Deckel lupft: «Wieso ist sie so emotional? Hat sie wieder ihre Tage?»
«Die Hölle kennt keine Wut wie die einer verschmähten Frau», lautet ein bekanntes Zitat. Es stammt aus einem knapp 300 Jahre alten Theaterstück, als Frauen auch schon als überemotional angesehen wurden. Aber was, wenn eine Frau tatsächlich keinen Bock mehr auf sämtliche Anstandsregeln hat? Und wenn besagte Frau Sängerin ist? Dann brüllt sie sämtliche Zeilen, die sie in ihr Tagebuch gekritzelt hat, auch mal in die Welt hinaus.
Ein ausgestreckter Mittelfinger gegen sämtliche Anstandsregeln
Das tat Alanis Morissette bereits 1995, als die damals knapp 20-Jährige das Album «Jagged Little Pill» veröffentlichte. In der Debütsingle «You Oughta Know» sang sie ihren Schmerz mit einer unbändigen Wut, wie man es bis dahin kaum kannte. Sie wollte den Leuten lieber als wütende Frau Angst machen, statt von ihnen als liebeskrankes Mädchen bemitleidet zu werden.
Denn noch immer werden Frauen oft zu Geduld, Vergebung und Toleranz angehalten. Schliesslich sehen Wut und Hass an ihnen «hässlich» aus. Zu männlich. Doch Alanis sprach – nicht nur, aber vor allem – Frauen aus der Seele. Und viele Sängerinnen taten es ihr gleich.
In «Caught Out There» schrie Kelis ihrem betrügenden Freund 1999 aus voller Kehle die Songzeile «I hate you so much right now!» entgegen und schuf eine herrliche Hymne der weiblichen Wut.
Es folgten Paramore, Pink, Beyoncé, Olivia Rodrigo und noch viele mehr.
Nur um es deutlich zu sagen: Bei all dem geht es nicht um «Männerhass» und noch nicht mal immer um Liebe und Trennungen. Herzschmerz ist bei weitem nicht der einzige Grund, weshalb Frauen aus der Haut fahren könnten. Da wären auch noch Ausbeutung, Anforderungen an das eigene Körperbild, Gewalt, Belästigung, Unterdrückung oder sogenanntes Medical Gaslighting, bei dem unsere gesundheitlichen Symptome nicht ernst genommen werden. Und doch halten wir uns oft zurück.
Zugegeben: Manchmal ist es tatsächlich lächerlich, wenn Frauen ausrasten. Das beweist jeder Blick in eine «Bachelor»-Folge. Aber in der echten Welt tut es manchmal auch einfach gut, vor lauter Wut und Verzweiflung zu heulen, zu schreien und einen Teller gegen die Wand zu knallen. Wut sieht vielleicht nicht gut aus. Aber es tut gut, wenn man sie auch mal hemmungslos herauslassen kann.




