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Wie ist es wohl, du zu sein? Oder: Wie richtiges Zuhören funktioniert – das Interview

In Zeiten der Krisen und der Verunsicherung braucht es Empathie, um Konflikte im Privaten und auf gesellschaftlicher Ebene zu lösen. Im Interview erklärt eine Expertin für gewaltfreie Kommunikation, wie das gelingt.

Zuwanderung, Klimakrise oder Nahostkrieg: Das sind Themen, die spalten. Mehr noch. In den sozialen Medien offenbart sich daran Hass und Hetze, im realen Leben brechen Freundschaften oder Familienbanden. Doch wie lassen sich diffamierende Aussagen umschiffen und vergiftete Diskussionen umgehen? Antworten dazu hat Tanja Walliser, deren Vision eine empathischere Gesellschaft ist.

Die Gesellschaft ist in vielen Fragen gespalten. Die Zuwanderung oder erst kürzlich der Umgang mit der Coronapandemie polarisieren, die Diskussionen sind oft vergiftet. Wie gelingt ein Gespräch mit jenen, von denen man sich provoziert fühlt?

Die Spaltung der Gesellschaft ist für mich unter anderem Ausdruck von viel Schmerz, der nicht gehört wird. Dieser drückt sich wiederum in Gewalt aus – verbal oder physisch. Damit sich der Schmerz transformieren kann, braucht es weniger Hetze und mehr Dialog. Ich kenne solche Diskussionen vor allem vom Familientisch.

Und wie gehen Sie damit um?

Einerseits übe ich mich darin, das Gegenüber nicht zu entmenschlichen, nur weil wir anderer Meinung sind. Wenn es mir möglich ist, versuche ich eine neugierige Haltung einzunehmen und zuzuhören. Besonders interessieren mich die persönlichen Geschichten und Schicksale der Menschen, die hinter den Meinungen stecken. Wenn ich diese Geschichten höre, fällt es mir leichter, eine gemeinsame Basis der Menschlichkeit zu fühlen. Andererseits achte ich auf meine Grenzen und übe mich darin, diese zu kommunizieren, wenn sie mit Aussagen überschritten werden. So kann es auch vorkommen, dass ich einen Dialog frühzeitig beende.

Wann haben Sie sich zuletzt über das unerwartete Einfühlungsvermögen einer anderen Person gefreut?

Mein Sohn überrascht mich immer wieder. Er ist sechs Jahre alt. Ich war krank, was ihn stark mitgenommen hat. Er fragte mich wiederholt: Wie geht es dir? Geht es schon besser? Abends beim Einschlafen sagte er mir, dass er traurig sei, weil ich krank sei. Das hat mich sehr gerührt, dass er in seinem Alter so um mein Wohlbefinden besorgt ist.

Sie machen sich für eine empathischere Gesellschaft stark. Was verstehen Sie konkret unter Empathie?

Empathie ist seit einigen Jahren in aller Munde, es erscheint viel Literatur dazu, teilweise mit unterschiedlichen Definitionen. Für mich ist Empathie die Fähigkeit, meine Aufmerksamkeit auf das Gegenüber zu lenken und darauf, was diese Person erlebt. Das kann auslösen, dass ich die Gefühle des Gegenübers mitfühle, was aber nicht dasselbe wie Empathie ist.

Empathie ist für Sie mehr aktives Zuhören, als sich in andere hineinzuversetzen?

Wenn ich aktiv zuhöre, hat dies oft zur Folge, dass ich mich ins Gegenüber einfühlen kann. Aber Empathie ist auch möglich, wenn ich nicht gleich empfinde wie die andere Person. Es geht darum, die Perspektive des Gegenübers nachvollziehen zu können und was zu seiner Meinung geführt hat. Mir ist es wichtig, Empathie abzugrenzen von: «Ich fühle, was du fühlst» oder «du bist überwältigt, also ich bin auch überwältigt». Das wäre nicht zuträglich für ein empathisches Zuhören, denn dann bin ich mit meinen eigenen Gefühlen beschäftigt.

Sie stützen sich auf das Konzept der gewaltfreien Kommunikation. Was hat diese mit Empathie gemein?

Empathie ist ein wesentlicher Aspekt der gewaltfreien Kommunikation. Dieses Konzept wird häufig bloss als Kommunikationsmodell verstanden, dabei ist es viel mehr. Es geht davon aus, dass Menschen grundsätzlich miteinander kooperieren und nicht Konflikte oder Kriege führen wollen. Es beinhaltet also auch eine Haltung. Empathie ist bei der gewaltfreien Kommunikation ein Ort, an dem wir uns in unserer Menschlichkeit begegnen können. Abseits von Meinungen.

Wie gelingt das konkret?

Es gibt kein Patentrezept. Doch was ich versuche, wenn ich Menschen treffe, ist, mich immer wieder zu fragen: Wie ist es wohl, du zu sein? In einer Diskussion – sei diese politisch oder auf eine Paarbeziehung bezogen – ist es oft so, dass mit «ja, aber» oder «ich sehe das anders» auf das Gesagte reagiert wird. Dabei könnte man einfach mal verweilen beim Gesagten. Was genau will mir mein Gegenüber damit mitteilen, was sind die Gefühle und Beweggründe dahinter? Das eröffnet häufig neue Möglichkeiten, um sich beispielsweise als Paar wieder zu finden. Ich erlebe es immer wieder, was für Erkenntnisse bei einer Person möglich sind, wenn ihr bloss jemand zuhört.

Sie schulen auch zur Selbstempathie. Was ist damit gemeint?

Es geht darum, innere Klarheit zu erlangen. Bei einem Streit beispielsweise hilft es, für sich zu klären, was das Gesagte in einem auslöst und wieso. Dadurch werden die eigenen Bedürfnisse erkannt, woraus sich eigene Wünsche formulieren lassen. Das ist der Aspekt der Gewaltfreiheit: Ich beschuldige mein Gegenüber nicht, sondern bringe meine Anliegen ein. Die Kunst ist es, diese im richtigen Moment zu platzieren. In einem Streit muss sich zuerst die Situation so weit beruhigen, dass eine Seite bereit ist, sich der anderen zuzuwenden. Ist das nicht möglich, kann eine Drittperson helfen.

Eine Art Vermittlungsfigur?

Ja, es braucht nicht heftige Konflikte, damit es hilfreich ist, eine dritte Person beizuziehen. Vielmehr wünsche ich mir einen Kulturwandel, indem Mediation etwas Alltägliches ist. Viele Situationen scheitern daran, dass beide Seiten nicht mehr aktiv zuhören. Kommt allerdings eine weitere Person hinzu, welche die Kapazität hat, empathisch zu sein, schafft sie den Raum für ein Gespräch. In unserer individualisierten Gesellschaft neigen wir dazu, alles selber lösen zu wollen. Dabei lohnt es sich, Auseinandersetzungen, aber auch Beziehungen in die Gemeinschaft zu tragen. In unserem Team versuchen wir das zu leben. Bin ich im Konflikt mit jemandem, stellt im Gespräch eine Drittperson sicher, dass ich gehört werde.

Trotz gelebter Empathie haben Sie noch Konflikte?

Ja, sogar mehr als früher.

Wie erklären Sie sich das?

Ich kann meine Bedürfnisse besser wahrnehmen und kommunizieren. Ein Problem, das wir in unserer Gesellschaft haben, ist unsere Angst vor Konflikten. Ich nehme mich da nicht aus. Dabei ist ein Konflikt nichts anderes, als dass zwischen zwei Menschen oder in einer Gruppe ein Update nötig ist. Etwas funktioniert nicht mehr, es braucht also eine Aktualisierung. So betrachtet ist ein Konflikt etwas Undramatisches. Weil wir aber nicht wissen, wie damit umgehen, verschlimmert sich die Situation oder der Kontakt bricht sogar ab.

Unser Zeitgeist ist von Selbstoptimierung und Individualisierung geprägt. Der Fokus liegt also stärker bei einem selbst als beim Gegenüber. Wie gelingt da ein empathisches Verhalten?

Der Begründer der gewaltfreien Kommunikation, Marshall Rosenberg, vertrat die Position, dass es für ein friedliches und kooperatives Zusammenleben einen Wandel auf der individuellen, der zwischenmenschlichen und der systemischen Ebene braucht. Die gewaltfreie Kommunikation geht von einem Menschenbild aus, bei dem man sich auf Augenhöhe begegnet, kooperiert und nicht übereinander bestimmt. Das ist allerdings in vielen Strukturen, in denen wir leben, nicht gegeben. Ich wünsche mir eine Welt, in der sich die Menschen gegenseitig unterstützen und empowern.

Zuhören oder in sich reinhören braucht Zeit. Auch die ist rar.

Ja, aber wenn ich, und im besten Fall auch mein Gegenüber, vor unserem Gespräch wissen, welche unsere Bedürfnisse sind und wir diese dann besprechen, spart das Zeit. Finden wir eine Lösung, die für beide stimmt, erübrigen sich möglicherweise weitere Gespräche.