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Autofahrerin fuhr Fussgänger an – wer hatte Vortritt bei der Tiefgaragenausfahrt?

Vier Anklagepunkte des Staatsanwaltes lösten sich vor dem Einzelrichter am Bezirksgericht Baden in Luft auf.

Es war ein Hudelwetter, regnete und schneite an jenem Freitag im Dezember 2021, als Kurt (alle Namen geändert) kurz nach 17.30 Uhr auf dem Heimweg war. Mangels Trottoir ging er am Strassenrand, besonders auch weil die Situation dort recht unübersichtlich ist.

«Die Gemeinde hätte schon lange etwas tun müssen», moniert der Frührentner vor Einzelrichter Pascal Peterhans am Bezirksgericht Baden. Dort sitzt Kurt als Zivilkläger wenige Meter entfernt von der 31-jährigen Rovena, die der Missachtung des Signals «kein Vortritt», der mangelnden Aufmerksamkeit, des ungenügenden Rechtsfahrens sowie der fahrlässigen Körperverletzung angeklagt ist. Der Staatsanwalt fordert als Sanktion eine bedingte Geldstrafe von 1000 Franken und 5900 Franken Busse.

Als Rovena an jenem Abend aus einer privaten Tiefgarage fuhr, erfasste ihr Auto Kurt. Dieser erlitt eine gravierende Fraktur im Bereich des rechten Knies sowie weitere Brüche an der Wirbelsäule. Zwei Operationen, Reha – Kurts Leidensgeschichte dauerte lange. «Das KSB hatte meinen Fall zwar Mitte dieses Jahres abgeschlossen, aber das Knie ist instabil und der Rücken schmerzt noch immer.»

Er sei, betont Kurt, davon ausgegangen, dass er vortrittsberechtigt sei, da die Garagenausfahrt entsprechend signalisiert ist. Ob er, so der Richter, das Auto denn nicht gesehen habe? «Doch, aber erst ganz kurz bevor es ‹tätsch› gemacht hat.»

Sie schaute zur Tochter auf dem Beifahrersitz

Rovena ihrerseits will Kurt gesehen haben, als er fünf Meter vor ihrem Auto stand. «Ich hatte kurz angehalten und zu meiner zweijährigen Tochter geschaut, die auf dem Beifahrersitz im Maxi Cosi sass. Als ich wieder anfuhr, ist der Mann vor mir aufgetaucht.» Vor Ort habe sie aber andere Aussagen gemacht, hält Richter Peterhans fest. «Ich war unter Schock, komplett ‹dure›.»

Als Rovena vehement auf die vor dem Richter geschilderte Version des Geschehens beharrt, legt der Richter ihr ein von ihr unterschriebenes Formular der Polizei vor. «Auf gut Deutsch gesagt, hat der Polizist sich das alles, was da steht, aus den Fingern gesaugt oder einfach falsch aufgeschrieben.» Warum sie das denn unterschrieben habe? «Wie gesagt, ich war unter Schock.»

Der Anwalt von Kurt rekapituliert das Geschehen und hält fest, dass sein Klient – wenn er Rovena ins Auto gelaufen wäre – andere Verletzungen erlitten hätte. Kurt könne seit dem Unfall vieles, vor allem im Haushalt, nicht mehr erledigen. Entsprechend beantragt der Anwalt nebst dem vollumfänglichen Schuldspruch auch eine Genugtuung in Höhe von 30’000 Franken sowie rund 10’000 Franken Prozessentschädigung.

Der Verteidiger seinerseits fordert einen Freispruch in allen Punkten sowie nicht Eintreten auf die Zivilforderungen. «Meine Mandantin kann den Vortritt gar nicht missachtet haben, weil es ein Vortrittsrecht für Fussgänger hier schlicht nicht gibt. Weder die Polizisten vor Ort, noch der Ankläger scheinen in Sachen Verkehrsregeln sattelfest zu sein.»

Auch werde in der Anklageschrift mit keinem Wort darauf eingegangen, inwiefern die Beklagte sich mangelnde Aufmerksamkeit habe zu Schulden kommen lassen.

Vortritt gilt gegenüber Fahrzeugen

Richter Pascal Peterhans sprach Rovena von Schuld und Strafe frei. «Kein Vortritt beim Verlassen einer Garage besteht nur gegenüber Fahrzeugen, nicht aber gegenüber Fussgängern.» Dass die Beschuldigte die Kurve geschnitten und ungenügend rechts gefahren war, sei nicht erstellt.

«Was die ungenügende Aufmerksamkeit betrifft, so mangelt es der Anklage an jeglicher Präzisierung. Wir erfahren nicht, ob die Beschuldigte beispielsweise das Handy bediente oder die Zeitung las. Vor Ort habe eine Beamtin Rovena gemäss einem sogenannten Erklärungsformular befragt und von ihr unterschreiben lassen. Aufgrund dessen habe die Polizistin später auf dem Posten einen Rapport verfasst.

«Weil vor Ort nur eine Erklärung und kein Protokoll erstellt und von der Beschuldigten unterschrieben worden war – was zwingend nötig gewesen wäre – wissen wir unter anderem nicht, ob die Beschuldigte ordnungsgemäss über ihre Rechte belehrt worden war, und ob sie tatsächlich kurz angehalten hatte, als sie zum Kind hinüberschaute», schliesst Peterhans die Urteilsbegründung.