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Bundespräsident Ignazio Cassis proklamiert die «kooperative Neutralität»: War die Schweiz früher unkooperativ?

Der Bundespräsident wartet am WEF in Davos mit einer neuen Wortschöpfung auf. Steht sie auch für neuen Inhalt? Eine kleine Begriffsklärung zur Schweizer Neutralität.

Am Samstag hat die NZZ einen Artikel zur aktuellen Lage der Neutralität publiziert. Der Kernsatz: «Während man in der Schweiz weiter über neue Formen der Neutralität streitet, ist sie für den Rest der Welt längst nicht mehr als solche erkennbar.» Als Kronzeuge für den Befund fungiert US-Präsident Joe Biden, der kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sagte: «Sogar die Schweiz» stehe dieses Mal auf der Seite einer Kriegspartei – hat sie doch die Sanktionen gegen Russland übernommen.

In der Wahrnehmung des Auslands mag die Schweiz die Neutralität begraben haben. Hat sie aber nicht. Dafür tobt ein Streit um die richtige Auslegung derselben. Am Montag hat Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis dazu ein neues Kapitel geschrieben – mit einer eigenen Wortschöpfung am WEF namens «kooperative Neutralität».

Man fragt sich unweigerlich: Pflegte die Schweiz früher eine «unkooperative Neutralität»?

Natürlich nicht. So hat sie aktuell immerhin sieben Schutzmachtmandate inne, vertritt zum Beispiel Russlands Interessen in Georgien und umgekehrt. Auch Micheline Calmy-Rey würde vehement widersprechen. Cassis’ Vorvorgängerin im Aussendepartment prägte den Begriff der «aktiven Neutralität». Höchste Zeit also für ein kleines Lexikon zur aussenpolitischen Maxime der Schweiz, die so Identität stiftend ist wie das Matterhorn, Toblerone oder das Postauto.

1. «Kooperative Neutralität»

Ist das bloss eine neue Worthülse für Altbekanntes? Oder beschreitet die Schweiz unter Cassis neutralitätspolitisch neues Terrain? Hören wir zuerst einmal, wie der Tessiner FDP-Mann den Begriff mit Inhalt füllt. Gegenüber der brachialen Verletzung fundamentaler Werte gebe es grundsätzlich keine neutrale Haltung. Denn Passivität toleriere den Rechtsbruch und könne dem Aggressor in die Hände spielen.

Ja, es stimmt. Eine neutrale «Wir-positionieren-uns-nicht»-Haltung stünde der Schweiz angesichts des russischen Überfalls schlecht an. Neutralitätspolitik ist nicht das Gleiche wie Neutralitätsrecht. Deshalb darf die Schweiz Russland verurteilen, ohne rechtsbrüchig zu werden. Deshalb darf Cassis sagen, dass die Schweiz an der Neutralität festhält oder eben neu: an der «kooperativen Neutralität».

Gegenüber Medien sagt er am WEF: «Wir können nicht einfach zuschauen, wie das Völkerrecht mit Füssen getreten wird.» Die Schweiz habe immer Kooperationen gepflegt, vielleicht in unterschiedlicher Intensität. «Dieses Mal war die Völkerrechtsverletzung derart massiv, dass auch die Kooperation grösser geworden ist. So ist der Begriff entstanden», führte Cassis weiter aus. Die Schweiz verstehe sich als Teil einer Grundwertegemeinschaft.

2. «Aktive Neutralität»

Micheline Calmy-Rey ist die Fürsprecherin der «aktiven Neutralität». Was das heisst, sagte sie in einem Interview mit swissinfo.ch: «Die Schweiz ist auf der Seite des Völkerrechts, sie stellt sich nicht auf die eine oder andere Seite eines Konflikts, sondern auf die Seite des Rechts. Natürlich ist es angebracht, sich zu äussern und Verletzungen des Völkerrechts zu verurteilen. Still sein und schweigen genügt nicht.

Cassis sagte am WEF auf die Frage, ob ihm die «aktive Neutralität» zu weit gehe: «Der eine Begriff schliesst den anderen nicht aus.» Die Schweiz sei sehr aktiv, mit humanitärer Hilfe und auf diplomatischer Ebene. Quizfrage: Was ist jetzt genau den Unterschied zwischen «kooperativer» und «aktiver» Neutralität? Sachdienliche Hinweise sind willkommen.

«Aktive Neutralität»: alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey.
Bild: Anja Wurm

3. «Rechtliche Neutralität»

Im Kern besagt das Neutralitätsrecht, dass neutrale Staaten kriegführende Staaten nicht mit Waffen und Truppen unterstützen dürfen. Das ist der unverrückbare Grundgedanke der Neutralität und bedeutet: Schweizer Waffen für die Ukraine wären ein Neutralitätsbruch.

4. «Flexible Neutralität»

Das Neutralitätsrecht ist starr, die Neutralitätspolitik erlaubt hingegen Flexibilität, denn es gibt keine Pflicht zu einer neutralen Gesinnung. Es ist also kein Rechtsverstoss, wenn der Bundesrat Russlands Krieg gegen die Ukraine verurteilt. Die Schweiz hat die Neutralität immer wieder den internationalen Konstellationen angepasst. So positionierte sie sich während des Kalten Krieges klar auf der Seite des Westens. 1990 übernahm sie die UNO-Sanktionen gegen den Irak.

Das bezeichneten Dozenten in Universitätshörsälen als «flexible» Neutralität, weil die Schweiz Wirtschaftssanktionen übernahm und nicht wie früher Handel im üblichen Umfang («Courant normal») trieb, als die Schweiz die Neutralität «integral» interpretierte.

5. «Integrale Neutralität»

Vor dem Ersten, während und nach dem Zweiten Weltkrieg praktizierte die Schweiz die «integrale Neutralität», stand also abseits bei Wirtschaftssanktionen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg legte der Bundesrat die Neutralität lange sehr eng auf und verzichtete vorerst auf den Beitritt zu internationalen Organisationen wie dem Europarat. Die Neutralität war auch der wichtigste Grund, weshalb das Volk 1986 den UNO-Beitritt deutlich verwarf.

6. «Differenzielle Neutralität»

Nach dem Ersten Weltkrieg trat die Schweiz dem Völkerbund bei. Sie musste sich nicht an militärischen Aktionen der UNO-Vorläuferorganisation beteiligen, aber an wirtschaftlichen Sanktionen. Das nannte man «differenzielle Neutralität». 1938, nachdem die Schweiz vom sanktionierten, faschistischen Mussolini enorm unter Druck geraten war, kehrte sie zur «integralen» Neutralität zurück. Die «differenzielle Neutralität» unterscheidet sich faktisch kaum von der «aktiven» oder «kooperativen» Neutralität.