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Warum Streiten gut für die Beziehung ist: «So erfährt man erst mal etwas Wichtiges über den anderen»

Harmonie ist das Ideal einer Partnerschaft. Dabei ist es oft gerade der Streit, der einem den Partner wieder näher bringt. Ein Gespräch mit dem Paarberater Michael Mary über die Offenheit für Unerwartetes, Zankereien und das Stolpern über Teppiche.

Für dieses Gespräch habe ich mich in die einschlägige Ratgeberliteratur eingelesen. Jetzt beschleicht mich das Gefühl, dass man erleuchtet statt menschlich sein muss, um «richtig» zu streiten.

Paarberater Michael Mary.
Bild: zvg

Michael Mary: Ach, herrje. Ich sage mal ketzerisch: Paar- und Kommunikationsberater sind die neuen Priester. Viele tun so, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. So, als hätten sie die Lösung für alle Probleme parat und als sei im Leben alles machbar. Ich schreibe gegen diesen Machbarkeitswahn an. Und was Beziehungen betrifft, erst recht.

Das heisst, Probleme dürfen sein? «Richtig» streiten gibt es nicht? Und dieses übermenschliche Gebot, im Streit stets nur Ich-Botschaften zu senden, darf man entspannter sehen?

Das sind viele Fragen auf einmal. Also: Probleme sind völlig selbstverständlich und unvermeidbar. In Paarbeziehungen treffen sich Individuen, also Unterschiedliche. Es wäre eher merkwürdig, wenn das nicht auf Dauer zu Konflikten führte. Und bei den viel gepriesenen Ich-Botschaften bin ich auch skeptisch. Wäre «Du bist ein Egoist» falsch? «Ich finde, du bist ein Egoist», dagegen richtig? Eher nicht. Aber sich selber zu öffnen, von «sich» zu reden, das ist schon wichtig in einem Streit. Und auch, dass etwas Neues bei einem Streit herauskommt, er also produktiv wird. Ein Kommunikationsverhalten, das völlig fruchtlos ist und dafür sorgt, dass man sich nur im Kreis dreht, sollte man sich genauer ansehen. Ansonsten finde ich: Durch Streit erfährt man oft erst mal etwas Wichtiges über den anderen.

Können Sie ein Beispiel bringen?

Wenn beispielsweise eine Frau im Streit zu ihrem Partner sagt: «Bei dir hatte ich ja sowieso noch nie einen Orgasmus …»

… dann klappt dem Partner aber so was von die Kinnlade herunter.

Richtig. Aber gut, dass er das mal erfährt. Paare, die Harmonie über alles stellen und sich auf keinen Fall verletzen wollen, bei denen kann es sehr schwierig werden. Die kehren so lange etwas unter den Teppich, bis jemand darüber stolpert. Dann ist der Schaden umso grösser.

Aber sich nicht verletzen zu wollen, ist doch gut …

Klar, man sollte sich gegenseitig nicht absichtlich einen reinwürgen wollen und generell auch keine Grenzen verletzen, wie sich beleidigen, niedermachen oder körperlich übergriffig werden. Aber ein Satz wie: «Ich bin schon lange unzufrieden mit unserem Sex.» So ein Satz fällt halt oft nur, wenn man richtig in Rage ist. Ohne den Streit wäre diese Information nicht da. Deshalb halte ich Streit-Toleranz für wichtig, also offen zu sein für Unerwartetes.

Und was ist mit den vier apokalyptischen Reitern, die der bekannte amerikanische Psychologe John Gottman als tödlich für die Konflikt-Kommunikation und die Paarbeziehung genannt hat: Kritik, Verachtung, Rechtfertigung und Mauern?

Ach, wissen Sie, ich bin nicht so ein Fan von Gottman. Seine ganzen Studien sind mir viel zu sehr im Labor entstanden.


Hm. Gottman sagt, er könne aufgrund der in einem Paarstreit herumgaloppierenden Reiter sogar prognostizieren, ob eine Partnerschaft halten oder scheitern wird. Können Sie so etwas auch erkennen, wenn ein Paar bei Ihnen in die Beratung kommt?

Ne. Ich kann mir höchstens einbilden, ich könnte das erkennen. Wichtig scheint mir, einem Streit erst mal etwas Gutes zu entnehmen, nämlich die Bereitschaft zur Auseinandersetzung miteinander. Einer möchte sich verständlich machen. Und – im besten Fall – versteht der andere.

Ein Kollege von Ihnen, Arnold Retzer, hat sinngemäss geschrieben: Wenn kein Streit mehr da ist, bleibt nur noch Ekel.

Aha. Aber man kann Paare ja nicht zum Streiten verpflichten, sie dürfen sich schon auch gut vertragen, oder? (Lacht.) Doch vermutlich meint er damit, dass man noch daran interessiert ist, um den Erhalt der Partnerschaft zu kämpfen. Ohne diese Bereitschaft kann man sich nämlich geradeso gut trennen. Man muss sich bewusst sein, dass man seinen Partner oder seine Partnerin nie vollständig kennt und neugierig bleiben. Da kommen immer mal wieder Überraschungen. Manche gefallen, manche schockieren.

Über was wird denn in Partnerschaften und Familien am häufigsten gestritten?

Über alles: ums Geld, um unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Entwicklungen … Wenn einer vielleicht plötzlich sagt: «Du, der Sex gibt mir nicht mehr so viel.» Eben um alles.

Und wie kommt man da raus?

Das ist davon abhängig, auf welcher der drei Ebenen der Beziehung man sich gerade befindet: der partnerschaftlichen, der freundschaftlichen oder der emotional-leidenschaftlichen Liebe.

«‹Ich begehre dich mittwochs und du mich freitags› wäre Unsinn.»

Das heisst?

Na, «partnerschaftlich» wäre zum Beispiel ein Streit über die Ordnung. Da kann man einen Kompromiss suchen. Das Wohnzimmer soll ordentlich, das Arbeitszimmer darf chaotisch sein. Auf der «freundschaftlichen» Ebene gibt es keinen Kompromiss, da kann man nur eine «Abmachung» treffen. Beispiel: Die Frau spielt gerne Tennis, der Mann Golf. Ein Kompromiss, etwa in Form von beide spielen jetzt Tischtennis oder Minigolf miteinander, wäre Quatsch. Da kann man «Abmachungen» treffen. «Du gehst mittwochs zum Tennis und ich freitags zum Golf.» «Ich begehre dich mittwochs und du mich freitags», wäre nun wieder Unsinn auf der «emotional-leidenschaftlichen» Ebene. Da gibt es keine Abmachungen. Da kann man nur «schenken» ohne Anspruch auf Rückerstattung.

Kompliziert, so ein harmonisches Familienleben.

Ich warne vor allzu viel Harmoniestreben. Wenn jemand aus der Haut fährt, heisst das doch, dass ihm seine Haut zu eng geworden ist. Das müssen die anderen wissen. Allerdings gilt es bei Eskalation, den Streit aufzufangen.

Was habe ich mir unter «auffangen» vorzustellen?

Nehmen wir an, es fällt der Satz «Du bist genau wie meine Mutter», da könnte jetzt schnell ein Heidengezänk entstehen. Oder aber der andere sagt vielleicht: «Was willst du mir eigentlich damit sagen», «Was regt dich so auf?» und versucht herauszufinden, was die eigentliche Mitteilung ist. Kommt dann eventuell «Ich fühle mich kontrolliert wie früher von meiner Mutter», kommt man gemeinsam weiter. Generell ist es gut, davon auszugehen, dass der andere wohl schon irgendeinen Grund haben wird, sich so aufzuregen. Das meine ich mit «auffangen».

Darf so etwas vor Kindern stattfinden?

Auseinandersetzungen vor den Kindern dürfen und müssen sein, destruktiver Streit keinesfalls. Kinder sollen nicht denken, Eltern seien immer einer Meinung. Bedrohungen, Respektlosigkeiten und Niedermachen aber sind tabu. Auch gibt es Auseinandersetzungen, die das Kind betreffen, etwa, auf welche Schule es gehen sollte, da wäre es nötig, dass sich die Eltern vorab einigten und nicht vor dem Kind darum stritten. Auch zu versuchen, das Kind auf eine Seite zu ziehen, ist destruktiv. So etwas überfordert Kinder.

«Zu versuchen, das Kind auf eine Seite zu ziehen, ist destruktiv.»

Und diese Zankereien um alltäglichen Kleinkram?

Sie meinen so was wie «Gibt es etwa schon wieder Kartoffeln»? Ein Konter wie «Ich steh’ eben auf Kartoffeln» mit der Replik «Und ich steh’ auf Nudeln – was also kochen wir morgen?» wäre nicht schlecht. Humorvoll vor einem Kind zu streiten, ist eine gute Sache. So lernt es, dass im Leben nicht immer alles bierernst ist, auch nicht jeder Konflikt. Kommt man im Streit nicht weiter, empfehle ich: Ruhen lassen, bis sich die Gemüter beruhigt haben. Aber auf der Spur bleiben und das Thema vielleicht einen Tag später erneut aufgreifen.

Bei Ihnen als Streitspezialist müsste in Ihrem familiären Umfeld eigentlich stets eitel Sonnenschein herrschen. Dabei …

Müsste es das? Sagt wer?

… dabei prägt Streit ja wohl die Beziehung zu Ihrem Bruder, habe ich in einem gemeinsamen Interview in der «Süddeutschen Zeitung» gelesenen. Einer von ihnen beiden sagt da den Satz «Das Streiten ist bei uns in der Familie wohl genetisch».

Unsinn. Kann nicht von mir stammen. Genetisch ist an einer familiären Streitkultur absolut gar nichts. Vielmehr lernen die Kinder von ihren Eltern ein bestimmtes Streitverhalten: etwa, ob man sich von anderen etwas sagen lässt, nach Lösungen sucht, sich verträgt oder ausweicht. Deshalb lohnt es sich für Eltern, über die Art der vorgelebten Kommunikation gut nachzudenken und daran zu arbeiten. Aber genetisch, pffft.