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Auch Doktor Erich Kästner weiss nicht immer Rat

Die humorvollen Verse aus Erich Kästners Lyrischer Hausapotheke behandeln die Sorgen des friedlichen Alltags. Doch auch ein Leser im Warschauer Ghetto las sie mit Rührung.

Gedichte nicht nur als konsumierbar, sondern als therapeutisch verwendbar anzupreisen, das ist aus Marketingsicht ein cleverer Zug. Auf diesen sprang auch Erich Kästner auf, als er 1936 «Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke» veröffentlichte. Der Band war «der Therapie des Privatlebens» gewidmet und die Gebrauchsanweisung wurde mitgeliefert: Ein Index, welche Seiten aufzuschlagen sind, etwa «wenn das Alter traurig stimmt» oder «wenn das Glück zu spät kommt».

Es sei seit je sein Bestreben gewesen, «seelisch verwendbare Strophen» zu schreiben, behauptete Kästner in der Einleitung. Ein paar Jahre zuvor hatte er in seinen Gedichten allerdings andere Töne angeschlagen. Denn neben seinen Kinderbüchern hatte er auch politische Gedichte verfasst, etwa «Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?» Diese Gedichte waren der Grund, warum auch Kästners Bücher am 10. Mai 1933 in Berlin verbrannt wurden. Der Schriftsteller harrte trotz des Publikationsverbots in Berlin aus. Die «Lyrische Hausapotheke» wurde in Zürich veröffentlicht.

So erstaunt es wenig, dass sich der Band mit politischer Kritik zurückhält. Viele Lacher gehen auf Kosten billiger Zielscheiben. Ein provinzielles Stadttheater wird vorgeführt, die Inkompetenz der Ärzte und immer wieder die modeversessenen Frauen. Die leichten Gedichte passen zur frivolen Stimmung im Berlin der 20er-Jahre. Doch als Deutschland unter den Nazis in die Barbarei versank und die Welt mitriss, hatte man ganz andere Probleme als jene wohlstandsverwahrlosten Städter, denen die lyrische Apotheke zugedacht war.

Dennoch entfaltete das Buch ausgerechnet in einer der Höllen, welche die Nazis geschaffen hatten, im Warschauer Ghetto, eine grosse Wirkung. Der 20-jährige Marcel Reich-Ranicki, der später zum wichtigsten Literaturkritiker Deutschlands werden sollte, stiess auf den Band. Ihm war klar, dass Kästners Gebrauchslyrik keine grosse Poesie war. «Gleichwohl haben mich seine intelligenten, seine kessen und doch etwas sentimentalen Gedichte damals gerührt und ergriffen, sie haben mich begeistert», so schrieb er in seiner Autobiografie. Gerade weil Kästners Verse nicht die entsetzliche Gegenwart des Kriegs einfingen, sondern weil sie ihn an seine eigenen unbeschwerten Jahre in Berlin erinnerten, berührten ihn die augenzwinkernden Rezepte aus der Lyrischen Hausapotheke.

Und nicht zuletzt schimmern durch den lässig-urbanen Ennui Beschwerden hindurch, die auch nicht ohne sind. «Man kann mitunter scheusslich einsam sein!», wird im Gedicht «Apropos, Einsamkeit!» geklagt. Ein Gegenmittel dazu kennt die Lyrische Hausapotheke allerdings nicht. «Da hilft es nichts, in ein Café zu gehn», noch «gleich wieder aufzustehn». Die Beflissenheit des Arbeitnehmers und die soziale Kälte sind ebenso wenig dienlich. «Da schaut man seinen eignen Schatten an. / Der springt und eilt, um sich nicht zu verspäten, / und Leute kommen, die ihn kühl zertreten. / Da hilft es nichts, wenn man nicht weinen kann.» Es hilft auch nichts, «mit sich nach Haus zu fliehn / und, falls man Brom zu Haus hat, Brom zu nehmen» – ob als Beruhigungsmittel oder in suizidaler Absicht, bleibt dahingestellt.

Vielleicht löste es auch im Warschauer Ghetto, wo Reich-Ranicki und seine Freundin Teofila jederzeit mit dem Schlimmstmöglichen rechnen mussten, eine gewisse Genugtuung aus zu beobachten, dass Doktor Kästner auch im Alltag ahnungslosen Friedens nicht allen seelischen Leiden abhelfen kann. «Da spürt man, wie es wäre: klein zu sein. / So klein, wie nagelneue Kinder sind! / Dann schliesst man beide Augen und wird blind. / Und liegt allein …»