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«Ich bin enttäuscht, traurig, entsetzt»: Wie sich Fans vor dem Konzert in Bern von Rammstein abwenden

Rammstein-Fans verkaufen ihre Tickets, denn ihre Idole haben sie enttäuscht. Warum aber wird man überhaupt zum Fan? Und warum kann die Musikindustrie ohne sie nicht überleben?

Jessica zweifelt. Die Band, die Shows, Till Lindemann selbst faszinieren sie. Sie erinnert sich noch gut, wie sie zum ersten Mal Rammstein gehört hat. Das war im Auto mit ihrem Vater. Vor 15 Jahren, seither ist sie Fan. Die letzten Wochen haben sie aufgewühlt. «Seit diesen Vorwürfen kann ich die Band nicht mehr unterstützen, da ich voll hinter den Frauen stehe. Ich kann keinen Mann anfeuern, der sich junge Frauen für Sex aussucht», sagt Jessica. So wir ihr geht es auch anderen. Patricias Gefühl sagt ihr, «dass dort vieles nicht ‹consent› war».

Sie ist Fan seit 25 Jahren: «Ich hatte Tickets für die Feuerzone in Bern. Ich habe selbst Erfahrungen mit K.-o.-Tropfen machen müssen und unter diesen Umständen könnte ich das Konzert nicht geniessen.» Auch Marcel wird morgen nichts ins Wankdorf-Stadion fahren, weil: «Ich es meinen Töchtern gegenüber nicht vorbildlich fände, mich ins Getümmel zu stürzen, als wäre nichts passiert.»

32’000 Besucherinnen und Besucher werden es aber dennoch tun. Wer am Donnerstag noch ein Ticket wollte, konnte aus knapp 100 Plätzen auf den hinteren Rängen aussuchen. Das Wankdorf-Stadion wird voll sein, wenn Rammstein zum ersten von zwei Konzerten in der Bundeshauptstadt ansetzt. Die Feuershow wird gewaltig. Wahrscheinlich wird auf den Schaum aus der Penis-Kanone verzichtet, die Funken aber werden fliegen und die Fans feiern.

Jeder kann ein Fan sein

Der Begriff «Fan» leitet sich vom Englischen «Fanatic» ab. Ist jemand, der am Bühnenrand dem Idol zujubelt, jede Zeile im Songtext kennt, nicht nur einfache Alben, sondern die Special-Edition kauft, ein Fanatiker? Wer sich einen «Fan» vorstellt, hat rasch ein klares Bild vor Augen: jung, weiblich und fällt vor männlichen Stars in Ohnmacht. Maximilian Jablonowski, Dozent am Institut für Populäre Kulturen an der Universität Zürich differenziert: «Fankultur ist vielfältig und ein weit verbreitetes Phänomen, das alle Alters- und Gesellschaftsschichten betrifft.» An den Konzerten der Rolling Stones sieht man die Fans mit der Band altern.

Auch ein Rammsteinkonzert ist ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Die Schocker-Ästhetik ist, spätestens seit David Lynch die Musik für seinen Psychothriller «Lost Highway» entdeckt hat, massentauglich. Ungefähr so lange verfolgt die 49-jährige Patricia die Band: «Ich bin seit circa 1997 Rammstein Fan, als ich in Karlsruhe in einem Heavy-Metal-Club gearbeitet habe, habe ich ihre ersten Songs gehört. Die Geschichte wühlt mich massiv auf. Ich bin enttäuscht, traurig, entsetzt, versuche das aber von der Gruppe Rammstein zu trennen.» Mit einem generellen Konzertverbot tut sie sich schwer: «Weil es das grundliegende Problem nicht löst. Aber ich finde es wichtig, dass man das Thema Machtmissbrauch adressiert.»

Die Beziehung zwischen Band und Fan

Das Gehör ist ein sehr intimer Zugang. Es holt den Star, der auf der Bühne hoch über seinem Publikum schwebt, ganz dicht heran. Musik und Text begleiten ihre Hörerinnen und Hörer über Jahre, sie sind geknüpft an besondere Momente und Erfahrungen. Jablonowski beschreibt: «Als Fan steht man in einer emotionalen und ökonomischen Beziehung. Fans sind keine passiven Konsumenten, sondern tragen einen kreativen Teil zum Gesamterlebnis bei.» Wie jede gesunde Beziehung ist auch diese wechselseitig. Als die Bands während Corona vor leeren Rängen spielte, kein Jubel sie trug, kein kollektives Gesumme den Refrain verstärket, wurde dies existenziell spürbar. «Die Musikindustrie würde ohne Fans kaum überleben», sagt Jablonowski. Sie reisen den Bands hinterher, kaufen nicht nur dieses Album, sondern ohne zu zögern auch das nächste und noch ein T-Shirt dazu.

Es gibt Musikagenten, die die von ihnen betreuten Musiker darauf trainieren, geliebt zu werden. Castings setzten Boybands aus «dem Coolen», «dem Süssen» und «dem Rebell» zusammen. Denn der Erfolg muss sich rechnen, der Rockstar eine Wertanlage, dessen Kurs man in den Charts verfolgen kann.

Kann sich ein Star alles erlauben?

Als Robbie Williams 1995 Take That verliess, richtete die Jugendzeitschrift «Bravo» das Dr.-Sommer-Tränentelefon ein. Es riefen so viele verzweifelte Teenager an, dass manche von ihnen ins Leere klingelten. Als sich ein Jahr davor Grunge-Legende Kurt Cobain das Leben nahm, sollen es ihm Jugendliche im wahnwitzigen Werther-Effekt gleich getan haben. Sind Fans also doch fanatisch? Maximilian Jablonowski schränkt ein, das seien Einzelfälle, wo oft mehrere Ursachen zusammen kämen. «Grundsätzlich ist Fankultur ein Feld, wo man eine Obsession in den allermeisten Fällen spielerische oder kreative Art und Weise ausleben kann.» Anders als bei Fussball-Hooligans, die sich regelrechte Revierkämpfe liefern, beschränkt sich die Rivalität bei Musikfans auf ihre Playlist und auf simple Fragen: «Stones oder Beatles?», hiess es in den 60ern. «Ärzte oder Hosen?», in den 90ern.

Die 1994 gegründete Band um Till Lindemann hat ihr Image aus Schweiss, Feuer und Provokation mit harter Hand selbst erschaffen und Fans seither mit gezielten Grenzüberschreitungen in Bann gehalten. Rammstein ist ein Gesamtkunstwerk, das es ohne das Explizite, ohne den «Sex» nicht geben würde.

Letzteres ist nun erstes Argument, wenn es darum geht, in der aktuellen Debatte nach Erklärungen oder viel mehr Schuldigen zu suchen. Selbst Schuld, wer bei solchen Texten glaubt, vor oder hinter der Bühne unberührt zu bleiben. Naiv, wer privaten Einladungen folgt, die Texte – «Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas)/Kannst dich gar nicht mehr bewegen» – hätten aufhorchen lassen sollen. Wenn der Fall so Eindeutig wäre, hätte die Veröffentlichung des eben zitierten Gedichts Ermittlungen anstossen sollen. Dass es das nicht getan hat, liegt an der Kunstfreiheit, die auch jenseits des guten Geschmacks noch gilt. «Die mutmasslichen Vorfällen bei Rammstein werden zurzeit oft als eine Pathologie von Fankultur beschrieben», sagt Jablonowski, «aber es ist eigentlich eine Pathologie des Star-Systems.» Angezeigt wäre es deshalb, so findet der Popkultur-Forscher, über das Bild von Rockstars nachzudenken und welche Grenzüberschreitungen wir ihnen zukünftig nicht mehr durchgehen lassen wollen.