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Ukraine-Krieg hat Streit losgetreten: Brauchen wir jetzt mehr Soldaten und Panzer – oder gerade nicht?

Im Lichte des Ukraine-Krieges debattierte der Nationalrat engagiert, aber sachlich über den Sicherheitsbericht des Bundesrats.

Noch vor ein paar Wochen wäre der 50 Seiten starke Sicherheitspolitische Bericht 2021 des Bundesrats, den der Nationalrat nur zur Kenntnis zu nehmen hatte, öffentlich kaum beachtet worden. Jetzt ist alles anders. «Der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine ist jetzt zuvorderst in den Gedanken und bei der Aufmerksamkeit», sagte etwa Melanie Mettler (BE) für die Grünliberalen.

Alle Ratsmitglieder müssen sich nach Putins Aggression fragen: Tun wir das Richtige für die Sicherheit in all unseren Lebensbereichen? Im Vorfeld war der Bericht, der erste seit fünf Jahren und der dichteste überhaupt, teilweise kritisiert worden. Ein «Schönwetterbericht» war er für die einen, anderen war er zu wenig armeelastig.

Viel Lob für Bericht des Bundesrats

In der sehr sachlichen Parlamentsdebatte schnitt der Bericht am Mittwoch allerdings gut ab. «Grosse Risiken sind heute global: Cyberkriminalität, Pandemien, Klimakatastrophen, organisiertes Verbrechen, Menschenhandel und Flüchtlingswesen», sagte etwa Doris Fiala (FDP, ZH). Das bilde der Bericht sehr gut ab. Er beinhalte «klare Aussagen zur aktuellen Bedrohungslage», sagte Thomas Rechsteiner (AI) für die Mitte-EVP-Fraktion. Auch die Grünen teilten «völlig» die Auffassung, dass die Sicherheit im breiten Sinn zu verstehen sei, also nicht nur im militärischen, sagte Léonore Porchet (VD). Die grösste Gefahr sei nach wie vor die Klimaerwärmung, die die menschliche Existenzgrundlage gefährde. Der Bericht habe aber auch die Entwicklungen um Russland und die Ukraine genügend antizipiert, so die im Nationalrat vorherrschende Auffassung.

Darauf beharrte auch Verteidigungsministerin Viola Amherd (Mitte): «Der sicherheitspolitische Bericht verweist explizit auf das inzwischen leider eingetretene Szenario in der Ukraine.» Sie zitierte den Satz aus dem Bericht, der vom letzten November datiert: «Russland hat sein militärisches Potenzial deutlich verstärkt und strebt an, im Westen Krieg gegen einen starken konventionellen Gegner führen zu können.»

FDP und GLP fordern nationalen Führungsstab

Aber es gab auch Kritik und Forderungen. Der Bundesrat war laut Aussagen von Präsident Ignazio Cassis und Finanzminister Ueli Maurer vom Russen-Angriff überrascht worden. Hier setzen GLP und FDP an: «Es leuchtet uns nicht ein, weshalb die Regierung die Schaffung eines nationalen Führungsstabs nicht stärker vorwärtstreibt. Der Aufbau von Strukturen, die eine strategische Gesamtsicht sicherstellen, ermöglicht uns, schneller in Krisen reagieren zu können und auf etablierte Kommunikations- und Koordinationsstrukturen bauen zu können», sagte Melanie Mettler (GLP). Jacqueline de Quattro (FDP, VD) sagte: «Unser Land braucht einen permanenten Führungsstab auf Bundesebene.» Schon die Corona-Krise habe gezeigt, wie wichtig es sei, schnell auf grosse Bedrohungen reagieren zu können.

Die SVP bemängelte, dass der Bericht ein unzutreffendes Bild vom Zustand der Schweizer Armee zeichne. Laut Fraktionssprecher David Zuberbühler (AR) könnte die Armee, wie sie aktuell aufgestellt ist, ihre Aufträge mangels Material und Bestände teilweise nicht erfüllen. «Unsere Armee wäre im Ernstfall schlicht zu klein. Es bestehen Ausrüstungs- und Bewaffnungslücken, die bis heute nicht behoben worden sind.» SVP und FDP hatten letzte Woche gefordert, das Armeebudget von fünf auf sieben Milliarden und die Truppenstärke von 100’000 auf 120’000 zu erhöhen. Ein besonderes Anliegen ist der SVP jetzt erst recht, dass der bevorstehende Verkauf der bundeseigenen Munitionsfabrik Ammotec durch die Ruag gestoppt wird.

Seiler Graf: «Neue Prioritätensetzung möglich»

Für die SP sagte Priska Seiler Graf (ZH), als Lehre aus dem Ukraine-Krieg schliesse sie «überhaupt nicht aus, dass sich beim Rüstungsprogramm eine neue Prioritätensetzung abzeichnen wird». Der Krieg zeige bis jetzt, «dass wir vermutlich mehr in Bodluv, also in die bodengestützte Luftverteidigung, investieren müssen, Kampfjets als Verteidigungsmittel aber eine weniger grosse Rolle spielen». Die Folge: «Umrüsten statt aufrüsten – vielleicht könnte das eine Devise sein.» Sie deutete Bereitschaft an, über mehr Mittel für die Armee zu diskutieren, allerdings nicht ins Blaue hinaus. Eine direkte militärische Bedrohung der Schweiz durch terrestrische Angriffe sei nach wie vor unwahrscheinlich, daher frage sie Bürgerlichen: «Warum genau muss das Armeebudget um satte 2 Milliarden Franken erhöht werden?»

Ihr Parteikollege Pierre-Alain Fridez (JU) wies auf «die sehr besondere geografische Lage der Schweiz Mitten in Europa». Paradoxerweise sei unsere Sicherheit durch das «Erwachen der Nato» erhöht worden. Die Nato würde Putin aufhalten. Die Russen kämen nicht bis zu uns, ausser, sie besiegten die Nato. Aber die sei militärisch um ein Vielfaches stärker. «Wir brauchen keine Panzer und Minenwerfer», so Fridez. Verletzbar sei die Schweiz dagegen durch Cyberangriff und Lenkwaffen, «die wir nicht abfangen könnten». Das neue Patriot-System sei erst in vielen Jahren einsatzbereit.

Amherd: Eigene Munitionsfabrik nützt uns nicht viel

Verteidigungsministerin Viola Amherd wies Kritik zurück, der Sicherheitsbericht habe die Russland-Angriff nicht auf der Rechnung gehabt. Er sei ein wichtiges Grundlagendokument. Gestützt darauf folgten jetzt «weitere konkrete Planungen wie beispielsweise die Entwicklung der Luftwaffe, Entwicklung der Bodentruppen, Entwicklung des Cyberbereichs.»

Sie stellte sich gegen die Forderung der SVP, den Verkauf der Munitionsfabrik Ammotec zu stoppen. Sie verwies auf Antworten von Finanzminister Ueli Maurer (SVP) in der Fragestunde, wonach damit nichts gewonnen wäre, weil die Ammotec ihre Rohstoffe und Halbfabrikate im Ausland einkaufe. Um für Engpässe vorzusorgen, bunkere die Schweiz Munition in grossen Mengen.

Bis Ende Jahr wird der Bundesrat, gestützt auf die Entwicklungen um die Ukraine, einen Zusatzbericht vorlegen. «Wir werden darin aufzeigen, inwiefern allfällige Justierungen vorzunehmen sind», so Amherd. «Der Bericht wird sich insbesondere mit der Armee befassen.»

Bericht soll Desinformationskampagnen aufklären

Der Nationalrat überwies, im Einverständnis mit Amherd, zudem zwei Postulate der Sicherheitskommission an den Bundesrat: Das eine verlangt, dass er eine «Auslegeordnung zur Bedrohung der Schweiz durch Desinformationskampagnen» vorlegt. Sie soll aufzeigen, welche «Beeinflussungsaktivitäten, unter anderem Desinformationskampagnen, politische Prozesse sabotieren sowie das Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen untergraben» können. Dieses Postulat lehnten die SVP und eine grosse Mehrheit der Mitte ab, aber es wurde mit 103 gegen 79 Stimmen überwiesen. Das zweite Postulat war unbestritten und befasst sich mit der Frage, welche Fähigkeiten Bevölkerungsschutz, Armee oder Zivildienst benötigen, um die zunehmenden «klimabedingten Naturgefahren zu bewältigen».