Sie sind hier: Home > Schweiz und Welt > Nemo schafft das Unmögliche: Ein Sieg für die Geschichtsbücher

Nemo schafft das Unmögliche: Ein Sieg für die Geschichtsbücher

Daran wird sich die Schweiz lange erinnern. Nemo hat mit seinem ESC-Triumph geschafft, was zuletzt zur Floskel verkommen ist: Menschen mit Musik einen. Ein Stimmungsbericht.

Auf einmal war alles so einfach: Das Publikum liess sich mitreissen, wie all die Flaggen, die nun durch die Luft wirbelten. Man lag sich in den Armen, sang, tanzte und trank zusammen. Der Eurovision Song Contest wurde mit den erlösenden letzten Punkten, mit denen Nemo die 68. Ausgabe für die Schweiz entschied, zu der Party, die er immer sein wollte.

Nemo hat die ESC-Fangemeinde um den Finger gewickelt. Ob um jenen, der beim Bruch des Pokals verletzt wurde, spielt keine Rolle. Denn beim Public Viewing in Malmö schien es, als hätte man niemandem den Sieg mehr gegönnt: «Bravo Schweiz», «Well done», «Gratulerar, Nemo!».

Bis zum Beginn der Show am Samstagabend war noch alles offen. Selbst Tom Glanzmann, der Präsident des Eurovision Club Switzerland, hatte nicht auf über 500 Punkte von Publikum und Jury zu hoffen gewagt.

Nach einem Blick auf die Wettquoten, in denen Nemo in den letzten Stunden vor dem Final satte 35 Prozentpunkte hinter dem Kronkonkurrenten Baby Lasagna aus Kroatien lag, tippte er auf 492 Punkte. Geworden sind es schliesslich nach der Auszählung der Stimmen aus 35 Ländern fast 100 Punkte mehr. Nemo gewinnt mit 591, ein überragendes Resultat, das die Schweizer Fans zum Staunen brachte.

Feiern im Zeichen der Völkerverständigung

Nachdem es zum ersten Mal hiess, «Douze points» für die Schweiz, wandten diese den Blick nicht mehr von der Grossleinwand ab. Keine Zwischenrufe nach «Europapa» und keine «Buhs», die der israelischen Kandidatin zusammen mit den Punkten entgegengeschleudert wurden, lenkten sie ab. Bis sie nach dem von allen erwarteten Kopf-an-Kopf-Rennen mit Kroatien in den erlösenden Jubel ausbrechen konnten.

Jubelnde Fans – was für ein Sieg! 
Bild: Keystone

Nemo hat an diesem Abend geschafft, was in den Tagen zuvor zur belächelten Floskel verkommen ist: Mit einem grossen Herzen und einer noch grösseren Stimme hat Nemo die Menschen zusammengebracht. Zwei Französinnen stecken die Enttäuschung rasch weg: «Wir gönnen es der Schweiz so sehr, dass sie zum ersten Mal seit 1988 mit Céline Dion wieder gewonnen hat. Nemo ist fantastisch.»

Im Sinne der Völkerverständigung nahm der Eurovision Song Contest am 24. Mai 1956 in Lugano seine erstaunliche Karriere auf. Man stelle sich Europa als Wohnzimmer vor, die Familie, die sonst zwischen Krimi, Cartoon und Quizshow zankt, schaut gemeinsam fern. Diesen verbindenden Gedanken schreibt sich die Veranstaltung mit dem disneyhaften Motto «United by Music» noch heute auf die Fahne.

Getrübte Stimmung nach Ausschluss der Niederlande

Zaubern kann ein solcher Musikwettbewerb nicht, auch wenn man mit Funkenregen und Flammenwerfern einiges für dieses Image tut. Gegen eine Weltlage, die so uneins ist wie lange nicht mehr, kommen Knalleffekte allein nicht an. Die Demonstrationen gegen die Teilnahme Israels prägten das Stadtbild auch unter bunten Wimpelketten.

Die Klimaaktivistin Greta Thunberg wurde am Samstag vor der Arena von der Polizei weggeführt. Entlang der Mauer um das Festivalzentrum im Folkets Park hingen Protestplakate gegen den «Genozide Song Contest». Surrenden Drohnen über den Köpfen und ein Grossaufgebot der Polizei, die Verstärkung aus Dänemark und Norwegen erhielt, sorgten für Sicherheit. Zugleich mahnten sie aber auch, dass für diese Ausgabe des Eurovision Song Contest angesichts der Lage in Nahost andere Vorzeichen galten.

Dass dann der Lieblingssong der Feiernden, «Europapa» vom Niederländer Joost Klein, wegen eines möglichen Übergriffs an eine Medienschaffende zum «Europapperlapp» verkam, entspannte die Lage nicht. Die Fans waren enttäuscht und empört, eine Disqualifikation aus dem Wettbewerb nach einem überstandenen Halbfinale hat es bisher noch nie gegeben.

Um in Feierlaune zu kommen, musste man sich am Samstagnachmittag anstrengen. Mit einem Song wie «The Code», gelang es dem Eurovision Club Switzerland aber: «Es drückt auf die Stimmung, aber wir haben uns vorgenommen, nach vorne zu blicken und zu geniessen», so Präsident Tom Glanzmann.

Nemo reisst den Vorhang runter

Das konnten sie gewiss und mit ihnen die gesamte ESC-Gemeinschaft. Was Funken und Glitzer allein offenbar nicht richten können, gelingt einer Performance mit Strahlkraft. Denn Nemo strahlte vom ersten Moment an. Der Auftritt ist durchgängig selbstsicher, charmant und authentisch.

Nemo überzeugte auch mit seiner Art.
Bild: Keystone

Zur eröffnenden Länderparade zeigte Nemo Flagge, nicht nur diejenige für die Schweiz, sondern allen voran diejenige für Nonbinarität. Nemo möchte nicht mit «sie» oder «er» angesprochen werden, ist also nonbinär – eine Genderidentifikation, die in der Schweiz seit einem Bundesratsentscheid von 2022 amtlich nicht unterstützt wird. Mit der Flagge setzt Nemo ein stolzes Zeichen auf einer Bühne, die politischen Inhalten lieber den Vorhang ziehen würde.

Mit einem starken Song über den Weg zu sich selbst – «I went to Hell and back» – trat Nemo nicht nur vor den Vorhang, sondern riss ihn regelrecht runter – «I’ll break out of the chains». Bis dahin plätscherte die Show, zog sich gelegentlich wie ein schmachtender Seufzer einer Ballade. Nemos wilder Ritt auf dem Kreisel rüttelte alle wach und verdrehte ihnen die Köpfe.

Eine Performance, die es in sich hatte.
Bild: Keystone

Nemo sammelte Punkte wie andere Treumarken beim Feiertagseinkauf an der Supermarktkasse. Mit jedem Votum, das erneut «Douze Points» an die Schweiz vergab, wurden die Augen grösser, die Umarmungen mit der Schwester neben sich fester.

Die internationalen Jurys bewerteten «The Code» mit satten 365 Punkten, und verschafften der Schweiz damit einen üppigen Vorsprung auf Kroatien. Nemo war sprachlos, und das Publikum zuhause vor dem Bildschirm und Arm in Arm in Malmö war es auch.

Taschenrechner wurden gezückt, eine Hand tippte, die andere hielt diejenige eines anderen Fans. Das Unmögliche schien greifbar, dies galt es festzuhalten. Die Rechnerei hätte man sich sparen können. Mit 226 Punkten aus dem Televoting zog Nemo an Alyona Alyona und Jerry Heil für die Ukraine sowie tatsächlich am Wettquotenführer Baby Lasagna für Kroatien vorbei.

Die Trophäe, welche die Vorjahressiegerin Loreen überreichte, hielt dem Siegestaumel nur wenige Sekunden stand. Sie zerbrach in Nemos Hand. Schlagfertig und kraftvoll die Reaktion darauf: «Ich habe den Code und ich habe die Trophäe zerbrochen. Diese kann man reparieren – vielleicht braucht der ESC auch ein kleines bisschen eine Reparatur.»

Nemo Stimme war der erste, verbindende Kit für die Risse dieses Anlasses. Diese richtige Bastelarbeit liegt nun jedoch an der Schweiz, die den Eurovision Song Contest 2025 austragen wird.

Er hat den ESC in die Schweiz geholt – danke Nemo!
Bild: Keystone

Schreiben Sie einen Kommentar