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Liebes Bundesbern, das Neutralitäts-Geschwurbel verfängt höchstens intern: Jetzt braucht’s Courage!

Die Neutralitätspolitik der Schweiz funktioniert angesichts des russischen Angriffskriegs nicht mehr. Ein Blick zurück zeigt, wohin der Weg führen könnte. Ein Gastkommentar.

Die Schweiz in der faschistischen Umklammerung von 1940–45 war an unserem Familientisch ein Dauerthema. Der Grossvater war Offizier im Aktivdienst, der Vater konnte als Gymnasiast noch knapp vor der Wehrmacht von Brüssel nach Bern fliehen, und meine Mutter erlebte die Nazis in Schaffhausen hautnah. Sie grölten auf dem Perron der Reichsbahn mit Hitlergruss: «Die Schweiz, dieses Stachelschwein, die nehm’n wir auf dem Rückweg ein!» Die Eltern erzählten von den widerlichen Anpassern, Fröntlern und Kollaborateuren, welche auf Orden, Geld und Gauleiterposten spekulierten.

Und plötzlich ist alles wieder da.

Die bigotte Debatte im Ständerat zur Neutralität war irritierend wie die berüchtigte Rede von Bundesrat Pilet-Golaz im Juni 1941. Ein Noch-Nationalrat berichtet entzückt Märchenhaftes aus den Moskauer Einkaufsstrassen und bettelt um eine Audienz bei Kriegsverbrecher Putin. Unser Bundespräsident gab in Berlin den Trotzigen: die neutrale Schweiz könne der ukrainischen Zivil­bevölkerung auch indirekt absolut keine Abwehr-Hilfe gegen russische Luftangriffe zugestehen.

Und unser Botschafter schob keck nach, die von Deutschland in der Schweiz erworbene Munition würde ohnehin keinen Unterschied schaffen. Fachleute rechneten darauf vor, dass damit mehrere hundert Drohnenangriffe hätten abgewehrt werden können. (Notabene: 1938 hatte der Schweizer Botschafter in Berlin die Idee mit dem J-Stempel, um Juden an der Grenze einfacher erkennen und zurückschicken zu können).

Die Schweiz macht dem Aggressor Zugeständnisse – ohne Not

Das Ganze erinnert an die «Neutralität» im Zweiten Weltkrieg. Der Devisen- und Rohstoffhandel des Dritten Reiches lief über die Schweiz, bis zum Schluss hat sie den Nazis Waffen geliefert und mit der eigenen Luftabwehr die deutsche Südflanke vor alliierten Bombern geschützt. Die USA bekamen immerhin eine Spionagezentrale in Bern zugestanden. Der englische Witz damals: Die Schweizer arbeiten sechs Tage die Woche für die Faschisten und beten am Sonntag für den Sieg der Alliierten.

Die Schweiz war damals eingekreist. Heute gibt sie dem Aggressor ohne Not gleich das ganze Spektrum an Zugeständnissen: Die Kriegsfinanzierung über den Rohstoffhandel, ein höheres Handelsvolumen, Zurückhaltung beim Aufspüren von Oligarchengeldern und obendrauf noch die Spionagezentrale in Genf. Als Zusatz wird der Ukraine mit der gleichen Gesetzgebung Schutzmaterial für die Zivilbevölkerung verweigert, mit der an Katar (Sponsor der Terrororganisation Hamas) und Saudi-Arabien (im Krieg in Jemen) Rekordmengen an Waffen verkauft werden.

Wir müssen die Ukraine unterstützen

Russland versteht diese Parteilichkeit als Einladung, gleich auch noch unsere Medien an die Kandare zu nehmen. Kritischen Schweizer Journalisten wird mit Straflager gedroht. Gleichzeitig ist die Schweiz mehr denn je auf die Kooperation mit den Nachbarn angewiesen, sei es für die Evakuationen in Afghanistan und jetzt im Sudan, sei es für Luftunterstützung bei internationalen Konferenzen, sei es für den permanenten Schutzschirm der Nato über Westeuropa. Dieser Dauereinsatz der Nato entlastet unser Verteidigungsbudget um Milliarden.

Gleichzeitig erhöht China den Druck auf die Demokratien weiter. Es war kein Versehen, als sein Botschafter in Paris den baltischen Staaten, der Ukraine und allen einst von Stalin besetzten Ländern die Souveränität abgesprochen hat. Taiwan auf der anderen Seite des Grosskontinents ist ohnehin im Visier Pekings, und die Inseln der Anrainerstaaten sind bereits illegal okkupiert. Die einst paradiesischen Spraty-Koralleninseln der Philippinen sind inzwischen ein zubetonierter chinesischer Militärstützpunkt.

Liebes Bundesbern, das Neutralitäts-Geschwurbel verfängt höchstens intern, international zählen die messbaren Fakten. Seht die geopolitischen Realitäten und tut endlich etwas Tapferes! Wir müssen uns konsequent auf die Seite des Völkerrechts und der Demokratien stellen. Und dazu die Ukraine im Kampf um Recht vor Macht direkt und indirekt massiv unterstützen. Bis der Eindringling vertrieben, die Kriegsverbrecher verurteilt und die Verschleppten zurückgeführt sind.

Das globale Kräftemessen ist in vollem Gang, mit Iran und Nordkorea verfügen die imperialen Autokratien über schlagkräftige Partner für Terror und Raub im Grossmassstab.

*Thomas Kessler ist Mitglied des publizistischen Ausschusses von CH Media, beruflich spezialisiert auf Sicherheitsfragen, Migration und Integration.