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Wie riesige Betonklötze mithalfen, die Nazis zu besiegen: Joe Bidens Gaza-Kunsthafen hat einen berühmten Vorgänger

Mit einem künstlichen Hafen will der US-Präsident mehr Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen ermöglichen. Vor 80 Jahren hatten die Briten dieselbe Idee, allerdings zu einem ganz anderen Zweck und unter dramatischen Umständen.

Joe Bidens Ankündigung eines künstlichen Hafens vor dem Gaza-Streifen weckte umgehend geschichtsträchtige Erinnerungen. Vor 80 Jahren standen die Alliierten im Zweiten Weltkrieg vor derselben Herausforderung wie die Hilfsorganisationen heute im Nahost-Krieg: Wie bringt man grosse Menge an Gütern von Schiffen mit viel Tiefgang an Land, ohne dass ein Hochseehafen zur Verfügung steht?

Die geniale Lösung, die den Briten damals einfiel, lautete: Wir bringen einen eigenen Hafen mit. So entstand Operation Mulberry («Maulbeere»), eine der entscheidenden Geheimaktionen des Krieges, die im Juni 1944 wesentlich zum Erfolg der alliierten Landung in der Normandie und folglich zum Sieg über Hitler-Deutschland beitrug.

Selbst 80 Jahre nach dem D-Day ist auf dem Strand von Arromanches das Mulberry-Prinzip erkennbar.
Bild: Sean Gallup/Getty

Wie so oft bei legendären historischen Ereignissen ist nicht ganz geklärt, wer die ursprüngliche Idee dafür hatte. Unbestritten ist, dass bereits 1940 der in Indien geborene Ingenieur Guy Maunsell die Idee künstlicher Häfen aufbrachte. Ebenso unbestritten legte im Sommer 1942 ein anderer ziviler Ingenieur, der Waliser Hugh Iorys Hughes, die ersten gezeichneten Pläne für künstliche Hafenpier-Elemente vor, die übers Meer zu ihrem Einsatzort geschleppt werden konnten.

Die zuerst vom Kriegsministerium ignorierten Entwürfe wurden wieder aufgegriffen, als Vizeadmiral John Hughes-Hallett nach seiner «Probeinvasion» auf Dieppe im August 1942 den selbst mitgebrachten Hafen forderte. Schon im Mai davor hatte der britische Kriegspremier Winston Churchill in einer schriftlichen Anweisung die Entwicklung von «Piers for use on beaches» («Schiffsanleger für den Gebrauch an Stränden») befohlen.

Über den Kunstpier rollte während 10 Monaten dringend benötigter Nachschub für die alliierten Armeen nach Frankreich.
Bild: Imago

Dies tat er mit dem typisch-energischen Zusatz, dass dieser Befehl nicht angezweifelt werden dürfe («Don’t argue the matter»), denn das Projekt sei an sich schwierig genug. In die Technische Kommission, welche dann die endgültigen Mulberry-Pläne entwarf, wurden aber weder Guy Maunsell noch Hugh Iorys Hughes berufen.

Grosses Rätsel für die deutsche Luftaufklärung

Eine weitere Zweit-Weltkriegs-Erzählung besagt, dass die deutsche Luftaufklärung sich schlicht keinen Reim auf die Aufnahmen von riesigen Beton-Rechtecken machen konnte, die ab 1943 in den britischen Häfen gegossen wurden. Geheimhaltung war oberstes Gebot.

Regelrechte Panik brach aus, als kurz vor der Invasion im Kreuzworträtsel der «Daily Mail» das Wort «Mulberry» zusammen mit weiteren Codenamen auftauchte, was dem ahnungslosen Rätsel-Redakteur ein strenges Verhör durch den britischen Geheimdienst einbrockte.

Das Prinzip der künstlichen Hafenelemente war ebenso einfach wie genial: Wurden die leeren Kammern im Inneren geflutet, sanken die schwimmfähigen Beton-Klötze auf den Strandboden ab und dienten so als Wellenbrecher und als stabile Unterlagen für die Landungsbrücken.

Nach der unter schweren Verlusten erfolgten Normandie-Landung am 6. Juni 1944 wurden dank Mulberry 2,5 Millionen Soldaten, eine halbe Million Fahrzeuge und 4 Millionen sonstige Güter sicher an Land gebracht. Dies, obschon einer der beiden Kunsthäfen bereits am 19. Juni in einem Kanal-Jahrhundertsturm zerstört wurde. Dank des während zehn Monaten über den zweiten Kunsthafen reichlich fliessenden Nachschubs konnten die Alliierten verhältnismässig zügig bis nach Nazi-Deutschland vorstossen.

Bei Ebbe kann auf dem Normandie-Strand von Arromanches auch heute noch aus nächster Nähe ein Blick auf Mulberry-Elemente geworfen werden.
Bild: Sean Gallup/Getty

Auf dem Strand von Arromanches sind die Betonelemente auch heute noch zu besichtigen. Ehrfürchtig umlaufen bei Ebbe Touristinnen und Touristen die mächtigen Blöcke, ohne vielleicht genau zu wissen, was es mit ihnen auf sich hat. Nach dem, was Ende Woche über Bidens Kunsthafenplan bekannt wurde, ist vor Gaza eine weniger dauerhafte Konstruktion geplant.

US-Spezialisten bereits unterwegs in Richtung Gazas Küste

Am Samstag legten von der US-Marinebasis Langley-Eustis in Virginia die ersten US-Marineeinheiten in Richtung Gaza ab, welche das Grundmaterial für die Errichtung der künstlichen Pier transportieren.

Während der von den Amerikanern «joint logistics over the shore» (JLOTS) genannten Operation sollen wie vor 80 Jahren vorgefertigte Elemente über das Meer gebracht werden und vor den Gaza-Stränden zusammengesetzt werden. Die Details hierzu führte Pentagon-Sprecher Patrick Ryder auf einer Pressekonferenz in Washington aus.

Fast gleichzeitig wurde aus dem Land der Mulberry-Erfinder Kritik am Vorhaben laut. Der britische Aussenminister und Ex-Premier David Cameron warnte laut Agenturangaben vor der langen Dauer, welche die Errichtung dieses neuen See-Hilfskorridors beanspruchen könnte.

Stattdessen solle Israel lieber den Hafen Aschdod nördlich von Gaza für Seelieferungen öffnen, die dann per Lastwagen zu den hungerleidenden Palästinensern transportiert werden könnten. Gleichwohl werde Grossbritannien die US-Armee beim Bau des Kunsthafens unterstützen.

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