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«Der Zweck heiligt nicht die Mittel»: Was ein Ethik-Experte zur neuen Lösung bei der Organspende sagt

Der Luzerner Professor Peter G. Kirchschläger spricht im zt Talk über die ethischen Grenzen von Organspenden – und den Paradigmenwechsel, der mit dem Wechsel zur so genannten Widerspruchslösung verbunden ist.  

Der Bedarf an Organspenden in der Schweiz ist gross, Ende 2022 waren es 1442 Menschen, die auf einer Warteliste standen. Voraussichtlich ab 2025 wird die Schweiz die so genannte erweiterte Widerspruchslösung einführen: Von einer Person, die sich nicht aktiv gegen eine Organspende ausgesprochen hat, wird angenommen, dass sie ihr zustimmt – beigezogen bei einer Entscheidung werden noch die Angehörigen. Die Lösung ist aus ethischer Sicht problematisch, sagt der in Luzern lehrende Ethik-Professor Peter G. Kirchschläger, der diese Woche bei der Reformierten Kirchgemeinde Zofingen ein Gastreferat hielt. 

 «Angesichts der Zahlen ist unbedingt notwendig, dass wir das Problem besser in den Griff bekommen. Es wäre also wichtig, mehr Spender zu haben.» Die Lebensqualität anderer Menschen könne verbessert, deren Lebensdauer verlängert werden. «Alles Gründe, bei denen man meinen könnte, dass sie eine Pflicht nahelegen würden», sagt Kirchschläger im zt Talk.

Er sei aber zurückhaltend: «Ich würde nicht von einer ethischen Pflicht sprechen, sondern dass es ethisch wünschenswert ist, Organe zu spenden. Wir sollten respektieren, dass jeder Mensch selbst über seinen Körper entscheiden kann.» Die Formulierung vom ethisch Wünschenswerten unterstreiche auch, dass es eine Spende bleiben soll. «Also eine freiwillige Entscheidung, jemandem etwas zu geben. Eine Art Geschenk.»   

Heute gilt die Zustimmungslösung: Man muss einer Organspende aktiv zustimmen. In der Pipeline ist – nach einer entsprechenden Volksabstimmung im Mai 2022 – die erweiterte Widerspruchslösung. «Falls sich jemand nicht dagegen wehrt, geht man von einer Einwilligung in die Organspende aus.» Erweitert ist die Lösung deshalb, weil bei den Angehörigen der mutmassliche Wille zum Spenden noch einmal verifiziert wird. Kommt ein klarer Widerspruch zum Ausdruck, würden keine Organe entnommen. 

Der Ethik-Professor spricht von einem Paradigmenwechsel

«Das Ziel, mehr Organspenden zu haben, ist ethisch begründbar. Der Zweck heiligt aber nicht die Mittel», so Kirchschläger. «Bei der Widerspruchslösung laufen wir Gefahr, dass Menschen, die eigentlich nicht Spenderinnen und Spender werden wollen, es schliesslich trotzdem werden. Sie haben sich vielleicht nicht informiert, oder die Informationen haben sie nicht erreicht.» Einfach einen mutmasslichen Willen anzunehmen, widerspreche dem liberalen Rechtsstaat. «Dieser muss respektieren, dass jeder Mensch über seinen Körper frei bestimmen kann.» Daran ritze die Widerspruchslösung. Weil es zur Veranschaulichung diene, schildert Kirchschläger ein «leicht übertriebenes Bild», wie er sagt. «Das ist etwa so, als würde ich sagen: Wenn ich nicht will, dass ein Dieb in meine Wohnung einbricht, muss ich ein Schild anbringen, auf dem steht: ‹Bitte brich nicht ein!› Wenn ich das Schild nicht aufhänge, dann darf ein Dieb einbrechen.» Die Zustimmungslösung sei unter ethischen Gesichtspunkten deshalb die bessere.

Kirchschläger spricht von einem Paradigmenwechsel. «Ich muss mich gegen Eingriffe in die persönlichen Rechte wehren, damit der Staat etwas nicht macht – anstatt dass es selbstverständlich ist, dass ich davon ausgehen kann, dass er meine Grundrechte respektiert.» Ein Muster, das sich auch auf andere Bereiche ausdehnen könnte. «Im Sinne von: ‹Hier haben wir es gemacht, jetzt können wir es da auch machen.› Davon sollten wir unbedingt die Finger lassen und das, was in der Schweizerischen Bundesverfassung an Rechten garantiert wird, auch verwirklichen.»

Zur Person

Prof. Dr. theol. lic. phil. Peter G. Kirchschläger (1977) ist seit 2017 Ordinarius für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Er ist beratender Experte in ethischen Fragen für nationale und internationale Organisationen und Institutionen (UN, UNESCO, OSZE und andere). Neben diversen weiteren Engagements ist er Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich und Präsident des «Ethikbeirats Smartes Luzern» der Stadt Luzern.