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13. AHV-Rente: Aargauer Linke jubeln über «historisches Resultat» – Wirtschaft befürchtet «gravierende Folgen»

Die anderen Parteien müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen, fordert Nationalrätin Irène Kälin (Grüne). Beat Bechtold, Direktor der Aargauischen Industrie- und Handelskammer, will dagegen nichts vom weiteren Ausbau des Sozialstaats wissen. 

Es ist ein klares Zeichen für die erste Säule: Das Schweizer Volk hat am Sonntag die 13. AHV-Rente mit 58,2 Prozent, der Aargau mit 52,6 Prozent Ja-Stimmen deutlich angenommen. «Ich bin hocherfreut über dieses historische Resultat», sagt Silvia Dell’Aquila, die Präsidentin des Aargauischen Gewerkschaftsbundes, mit einem Lachen. «Ich war sehr optimistisch. Wir haben einen gewissen Drive im Abstimmungskampf gespürt.»

Bemerkenswert sei auch die Tatsache, dass Aargauer Gemeinden, in denen viele Arbeitende wohnen, deutlich Ja gestimmt haben, etwa Spreitenbach, Neuenhof, Menziken oder Reinach. Das zeige, dass das Anliegen dort auf einen besonders fruchtbaren Boden gefallen ist.

Die Volksinitiative liess offen, wie die 13. AHV-Rente konkret finanziert werden soll. «Ich bin überzeugt, dass wir eine verträgliche Lösung finden, die der Wirtschaft nicht schaden wird», sagt Dell’Aquila (SP), die auch dem Aarauer Stadtrat angehört. Sie verweist darauf, dass die Sozialabgaben auf Löhne in der Schweiz in den letzten Jahren gesunken sind. «Hier haben wir im europaweiten Vergleich tiefe Abgaben.»

«Hoffe, andere Parteien nehmen Sorgen der Menschen ernst»

Gute Laune versprüht auch Irène Kälin, Nationalrätin (Grüne) und Präsidentin des Arbeitnehmenden-Dachverbandes Arbeit Aargau. «Das klare Ja zeigt, dass einige Parteien über die Menschen mit ihren Sorgen und wenig Geld im Portemonnaie hinwegpolitisiert haben, auch im Aargau», stellt sie als Erstes fest. Zu den Sorgen zählt sie explizit die Teuerung und die steigenden Krankenkassenprämien, welche Einkommen geschmälert haben. Deshalb sei es auch logisch, dass jene Gemeinden mit einem grösseren Anteil an normalverdienenden und ärmeren Menschen in der Bevölkerung deutlich Ja gestimmt haben, während reichere Städte mit einem Nein votierten.

Für ein Ja haben einzig SP und Grüne, Gewerkschaften und soziale Organisationen gekämpft. Dass der bürgerliche Aargau, der bei Hochrechnungen als Swing-State galt, für die 13. AHV-Rente stimmt, komme insofern unerwartet. «Das Resultat ist historisch», sagt deshalb auch Kälin. «Es haben also viele Menschen Ja zur 13. AHV-Rente gesagt, die sonst anders wählen und abstimmen.» Insofern spricht Kälin von einer Genugtuung. «Ich hoffe, die anderen Parteien nehmen die Sorgen der Menschen nun endlich auch ernst. Denn dieses Mal waren wir die einzigen, die für sie gekämpft haben.»

Kälin erwartet, dass die 13. Rente mit einer Erhöhung von Lohnprozenten finanziert werden kann. Und sie hofft, dass das Parlament in Bern, aber auch der Aargauer Grosse Rat den Entscheid des Volkes bei den nächsten sozialpolitischen Entscheiden ernst nehme und als Weckruf auffasse.

Wirtschaftsverband spricht von gravierenden Folgen

Gross ist dagegen die Enttäuschung bei Beat Bechtold, dem Direktor der Aargauischen Industrie- und Handelskammer (AIHK). «Wir haben bis zuletzt gehofft, dass wir aufzeigen können, welche gravierenden Konsequenzen ein Ja haben wird», sagt er. Nebst dem strukturellen Problem, dass der Anteil der Rentner in der Bevölkerung steigt, kämen jetzt Zusatzkosten von fünf Milliarden Franken dazu. Die Aussicht, dass die 13. AHV-Rente mit höheren Lohnabzügen finanziert werden könnte, «macht uns als Wirtschaftsverband keine Freude», sagt er. «Auch eine höhere Mehrwertsteuer würde alles teurer machen.»

Beat Bechtold, Direktor der Aargauischen Industrie- und Handelskammer, ist über das Resultat der AHV-Initiative enttäuscht.
Archivbild: Alex Spichale

Die Gründe für das Ja sieht er in einer Gemengelage. Vier Punkte zählt er auf. Erstens Inflation, höhere Preise und Krankenkassenprämien. Zweitens dass der Staat bei der Credit Suisse bereit gewesen wäre, mit Milliarden einzuspringen. Drittens, dass er während der Coronapandemie Milliarden zur Verfügung stellte. Und viertens die Meinung, die er beim Flyerverteilen von Passanten gehört habe, dass der Staat für Flüchtlinge und Entwicklungshilfe viel Geld ausgebe. «Jetzt soll der Staat einmal den Einheimischen etwas zurückgeben – diese Ansicht habe ich immer wieder gehört», sagt Bechtold.

Angesichts des deutlichen Ja ist er überzeugt: «Die Gewerkschaften kommen nun sicher mit weiteren Ideen, um den Sozialstaat auszubauen.» Einen Dammbruch für deren Anliegen erwarte er aber nicht. Dagegen würde die AIHK auch ankämpfen.

Renteninitiative: Enttäuschung bei Jungfreisinnigen

Noch klarer fällt das Aargauer Resultat bei der Renteninitiative der Jungfreisinnigen aus: 73,8 Prozent lehnten sie ab. «Diese Diskussion ist nun vom Tisch», sagt Silvia Dell’Aquila zum Vorschlag der Jungfreisinnigen, die AHV mit einer weiteren Erhöhung des Rentenalters zu finanzieren. «Man muss sich nun andere Konzepte überlegen.»

Der Jungfreisinnige Travis Schmidhauser sagt dagegen: «Wir sind sehr enttäuscht, dass das Resultat in unserem bürgerlichen Kanton so deutlich ausgefallen ist.» Der 19-Jährige aus Sarmenstorf hat in viel Zeit und Energie in die Renteninitiative investiert, wurde als bester Unterschriftensammler im Aargau ausgezeichnet. Bei den Parteitagen von SVP, FDP, SP oder Juso machte er Werbung für die Initiative.

Travis Schmidhauser sprach im Januar am Aargauer SVP-Parteitag in Erlinsbach – doch die Mehrheit lehnte sie ab. 
Bild: Severin Bigler

Wie geht es nun weiter? «Wir werden das Thema Rente weiterverfolgen und uns für Lösungen einsetzen, damit die Jungen in Zukunft auch eine Rente erhalten werden», kündigt Schmidhauser an. Trotz der Niederlage spricht er von einer «wertvollen Erfahrung» Denn: Wir haben gesehen, was es alles braucht für eine nationale Kampagne.» Bei der kantonalen Blitzerinitiative befinden sich die Jungfreisinnigen im Schlussspurt. «Wir haben den Grossteil der Unterschriften zusammen», sagt Schmidhauser. Für die Aargauer Jungfreisinnigen kündigt sich somit der nächste Abstimmungskampf an.

Das sagen Cédric Wermuth und Thierry Burkart zum Ausgang der Abstimmung:

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